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Das Bilderbuch des Königs Salomo

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„Was ist's, das geschehen ist? Eben das, was nachher geschehen wird. Was ist's, das man getan hat? Eben das, was man hernach wieder tun wird. Es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Geschieht etwas, wovon man sagen könnte: Siehe, das ist neu? Es ist zuvor schon geschehen, in den langen Zeiten, die vor uns ge- wesen sind..."

Diese Worte des Predigers Salomo stehen als Motto über einem im Phaidon- Verlag erschienenen Bilderbuch, das Ludwig Goldscheider herausgegeben hat — unter einem Titel, der so ernst und ironisch, so einfach und hintersinnig ist wie das ganze Buch: „5000 Jahre moderner Kunst oder: Das Bilderbuch des Königs Salomo." Wir stehen nicht an, diesen Titel als ein kleines Kunstwerk zu ajl den größeren zu rechnen, die in diesem Druckwerk abgebildet sind. Er ist meisterhaft.

Goldscheider stellt in Bildern und Ausschnitten einander gegenüber: ein Porträt aus der Hand van Goghs und ein Fresko- detail von Piero della Francesca; den Mosaikkopf eines Heiligen aus der Ca- pella Palatina zu Palermo (um 1140) und ein Männerbildnis von Derain (um 1920); Pisanello und Klee; ein pompejanisches Mosaik und einen Daumier. Und vieles, vieles andere. Und siehe da: jedes Bild ist „zuvor schon gewesen, in den langen Zeiten, die vor uns gewesen sind." Zwischen den Höhlenmalereien von Altamira und der. italienischen Renaissance liegen Jahrtausende und doch nur ein Schritt, und zwischen dem Japaner Hokusai und irgendeinem modernen Franzosen die halbe Welt und nur eine Haaresbreite — dünn alles, was da heute geschieht, ist nicht nur in den langen Zeiten zuvor, sondern zumeist auch anderswo geschehen — und sei's, daß man Parallelen zu gewissen Picasso-Bildern erst in der altperuanischen Kunst findet...

I Diese Erkenntnisse sind zwar nicht ganz neu — Goldscheider selbst ist ihnen schon in einem früheren Buch nachgegangen, den Expressionisten waren sie fast schon Gemeinplätze, und im musealen Bereich, wie etwa im Folkwang-Museum, hat man sie sogar praktisch angewendet. Ąber wenn auch nicht neu, so bleiben sie doch immer überraschend: denn wir sind immer noch daran gewöhnt, Kunstwerke historisierend, als Ergebnisse zwar mannigfaltiger, aber doch geradlinig verlaufender Entwickl'ungsreihen zu sehen. Aus den Raum- und Zeitrelationen aber h eiausgehoben und gleichsam nackt,' nur als Formgebilde, nebeneinandergestellt — und eben das geschieht in diesem Buch —, sehen die Vertrauten uns anders und wie Unbekannte an. Wir erschrecken ein wenig dabei; aber seltsam, dieses Erschrecken ist eher freudiger Art, und die leichte Verwirrung, die den Aufmerksameren beim Durchblättern des Bandes befällt, nicht unangenehm: es ist, als entdecke man in alten, uns längst vertrauten Freunden unvermutet große Dichter und Helden.

Auch in der Kunst gibt ės offenbar, nicht anders als in der Geometrie, nur eine bestimmte Anzahl von Grundformen und Urvorstellungen — Archetypen, wie sie das schon geläufig gewordene Wort nennt. Ihre Eigenschaften scheinen Unveränderlichkeit und ein Beharrungsver- mögen zu sein, das sie immer wieder durch alle Verkleidungen hindurch zum Vorschein kommen läßt: ob von einem byzantinischen Mosaizisten oder einem Maler des zwanzigsten Jahrhunderts geschaffen — die Grundfigur des bärtigen Mannes mit dem asketischen Gesicht, des Heiligen oder, im profanen Bereich, des „kveißen Alten" bleibt dieselbe da und dort, ob in öl oder Glassteinchen abgebildet.

Nun, eine solche Überlegung gleicht dem Ei des Kolumbus — so einfach und doch so schön! Der Künstler brauchte also — wenn er sein Geschäft, das ja doch kein Neues unter die Sonne bringt, nicht gleich lieber aufgeben will — nur Kunst-

geschichte, Mathematik, Ethnologie und Tiefenpsychologie nach den zahlreichen, aber nicht unendlich vielen Archetypen durchstöbern, den einen oder anderen herausgreifen, ihn mit seinen modernen Mitteln reproduzieren — voilä, das Kunstwerk ist fertig. Noch leichter hätte es der Kritiker, der nur mehr in seinen Büchern zu vergleichen brauchte, um festzustellen, wie nah der Maler oder Bildhauer dem Archetyp gekommen ist — der geringere oder weitere Abstand zwischen jenem und der Reproduktion ergäbe schon die Möglichkeit, den „Wert" des Gebildes exakt zu messen. Warum auch nicht? Auf dem Nachttisch des besseren Künstlers von heute liegt ein Band von C. G. Jung. Und neben dem Bett des Kritikers liegt auch einer — der zuletzt erschienene nämlich. Freilich, Christophs Ei hatte einen Schönheitsfehler: es zerbrach, als es auf den Tisch gestellt wurde. Und Kunst, nach Rezept geschaffen, ist — meist, nicht immer — zu künstlich, um wirklich Kunst zu sein. Die Theorie ist nichts ohne das Ingenium des Künstlers; eine Binsenwahrheit, gewiß, aber eben doch jene Wahrheit, an der alle Kunstdebatten enden müssen. Und die großen einfachen Urbilder kommen nicht, wenn sie gerufen werden, sondern, wenn die Zeit reif und ein Genie bereit ist, sie zu empfangen. Alles andere bleibt Hilfsmittel — auch die Lektüre C. G. Jungs.

Aber wenn schon nicht dem Künstler, so liefern Bücher von der Art des Gold- scheiderschen doch der Kunstbetrachtung Anlaß zu Kombinationen und Material für — nun, sagen wir: Arbeitshypothesen.

Eins wird aus ihnen nämlich offenbar: daß die Möglichkeiten des Vergleichs zwischen dem Bild A und dem (früheren) Bild B um so geringer sind, je älter das Bild A ist: einen Tizian kann man etwa mit einem spätantiken Wandbild oder ähnlichem vergleichen — aber das wird so ziemlich alles sein. Picassos wandelbare Bilder könnten hingegen bei einigem Nachdenken und Vergleichen mit Unzähligem verblüffende Ähnlichkeiten aufweisen: mit primitiven Plastiken- mit peruanischen Stickereien, gotischen Architekturen, barocken Zeichnungen, archaischen Skulpturen, kretischen Fresken und selbst —

wie ein Beispiel im „Bilderbuch" zeigt — mit deutschen Meistern des 16. Jahrhunderts.

Diese Überlegung ist wohl geeignet, so etwas wie ein leichtes Schwindelgefühl hervorzurufen. Aber sie ist die einzige, aus der sich eine knappe Diffinition des Wesens und des Charakters der so vielfältigen und unterschiedsreichen Moderne ableiten läßt; diese Defination ist so paradox wie die Kunst selbst und so banal, wie alles, was über Kunst gesagt und geschrieben wird: Wenn die Kunst der Gegenwart einen eigenen Stil hat, so nur insofern, als sie jeden Stil hat. Sie ist in einem hohen Maße manieristisch (worauf auch Goldscheider hinweist), weil ihr, wie jedem Manierismus, der Stil alles ist. Ergebnis einer langen Entwicklung, ist sie entwicklungsfeindlich — das Nebeneinander ist ihr wichtiger als die Abfolge.

Das Ergebnis ist durchaus nicht sehr befriedigend. Aber was will man? Auch die Urteile Salomos, in.dessen Bilderbuch wir geblättert haben, waren bisweilen zwiedeutig ...

Ebenfalls von Ludwig Goldscheider, und vom Phaidon-Verlag in gleicher Aus stattung herausgegeben wurden „Leonardos Landschaften und Pflanzen" und „Repräsentanten der Renaissance"; der erste Band mag seiner Vollständigkeit halber ein wesentlicher Bildbeitrag zur Leonardo-Literatur seih — der andere ist sozusagen wiederum eine Eigenschöpfung Goldscheiders, der hier aus stark vergrößerten Bildnismünzen und -medaillen der Renaissance eine Porträtsammlung berühmter Männer und Frauen des 16. Jahrhunderts zusammengestellt und nebenbei die innere Größe dieses Skulpturzweiges in neues Licht gerückt hat.

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