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Über die Gipsköpfe

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Der Bekannte vom Museum nannte die Summe, die der nunmehr fertige Vasco da Gama samt seinem Gerüst gekostet hat. Vielleicht ist die Zahl übertrieben. Aber Vascos zunächst gipserner, dann steinerner Kopf ist nicht der einzige, der in Wien neu aufgesetzt wird. Im Belvederegarten, bei der Technischen Hochschule, bei den Museen und in den Parks sind Bataillone von Genien und großen Männern mit bidhauerischen Prothesen versehen worden. Die Gesamtkostensumme ist wohl nicht klein.

Das Problem der Gipsköpfe ist keineswegs einfach. Es kann weder von dem banausisch-knauserischen noch- von dem kultursentimentalen Standpunkt entschieden werden: Soll man die zerschlagenen, belanglosen Figuren überhaupt wieder zusammenstoppeln? Soll man dies erst später tun, wenn das Lebensnotwendige geschehen ist? Soll man die steinernen Krüppel „echt“ ergänzen oder — wie die römischen Denkmalpfleger es machten — in farbig deutlich abgesetztem Ersatzmaterial? Wem soll man es recht machen?

Da ist zunächst die mächtigste Partei: die Frauen. Eine Frau, wenn sie selbst imstande ist, die Unmöglichkeit der

Nachahmung/ des Barocken einzusehen und zu erkennen, wie schlecht die Kopie des alten Vorbilds gelingt, wird trotzdem der Meinung^sein, man müsse den zerstörten „März“ oder „Mai“ der Monatsputtos im Belvederegarten wieder hinstellen. Ihr Ordnungssinn ist verletzt, wenn in der Reihe einer fehlt oder wenn ein Kopf oder Arm zu wenig ist. Den Frauen ist es lieber, der Fuß ist schlecht ergänzt, als er ist gar nicht da. Seien die Figuren an der Technik oder dem Musikverein noch so mittelmäßig, die Frau wird dafür sein, daß sie neue Hände, Füße, Hüte, Musikinstrumente oder Sicheln bekommen. Natürlich wird dies nur „im allgemeinen“ gewünscht, daß von den neun Musen, den drei Grazien oder den vierzehn Nothelfern ! “.einer fehlt. Sagt man, daß die Musen kostspielig sind und daß man mitbezahlen muß, so kommt eine wesentlich unsentimentalere Haltung zum Vorschein. Das Problem steht also so, daß die Majorität der Frauen samt den weiblichordentlich-gesinnten Männern die Herstellung der Gipsköpfe wünscht, allerdings ungern dafür bezahlt. Die wiederaufbauende Stelle tut gut daran, die Kosten so in die verschiedenen Budgets zu verteilen, daß man nicht leiriit herausfindet, was die Kultur kostet. Die Banausen würden zornig sein.

Die Durchdenkung des Problems ist nunmehr bei dem kitzligen Punkt angelangt, wo eine Entscheidung manipuliert werden muß. Solche Entscheidungen gibt es hundert. Man kann dem Volk nicht alles sagen. Aber es wäre natürlich gut, wenn ein starkes Ethos, eine unbestrittene Kulturpflicht, eine anerkannte Meinung der „Besten der Zeit“ hinter solchem Entschluß stünde. Das gerade Gegenteil solcher Kulturabsicht ist wahrscheinlich. Die Entscheidung über die Flüssigmachung der Mittel erfolgt weniger aus sachlichen als aus sentimentalen, noch mehr aus opportunen Gründen. Die „Besten der Zeit“, die Fachmänner, die das Problem des Denkmalschutzes am tiefsten durchdacht haben, sind in ihrer Mehrzahl der Meinung, daß die dekorativen Dutzendfiguren des Stils um 1900 am besten verschwinden und daß man Wiederherstellungen und Ergänzungen wertvoller Plastik lieber unterläßt. Sie glauben mit Goethe, daß Kunst nur in der höchsten Qualität einen Sinn hat (daß also die dekorative Dutzendware der Erziehung zur Qualität Abbruch tut) und, daß das Aufsetzen neuer Köpfe ungefähr ebensoviel Unverstand und mangelnde Achtung vor dem Original bedeutet, als würden an die milesische Venus neue Arme angemacht. Eine gewisse Schule der Denkmalpflege sucht sich aus der Verlegenheit zu ziehen, daß sie Ergänzungen aus ersichtlich anderem Material propagiert, so daß also eine Täuschungsabsicht nicht vorgeworfen werden kann. Man weiß, was alt und neu ist. Zu Mussolinis Zeit konnte man derartige Ergänzungen in Rom häufig sehen. Nun stelle man sich aber vor, die ergänzten Monatsputtos im Bel-vedere hätten dunkle Kunststeinköpfe I Hier sieht man das Eingekeiltsein, die Ausweglosigkeit zwischen verständigem Handeln und Sentiment, Ehrfurcht und Liebe zum Alten, Ordnungsgefühl, welches den zerschlagenen Genius ablehnt, Unmöglichkeit der vollkommenen Nach-empfindung, des vollgültigen Ersatzes. Die Motive lassen sich nicht vereinen. 90 Prozent — aber nicht die, deren Urteil auf Kunstverstand beruht, werden dem Kompromiß zuneigen, namentlich dann, wenn es ihnen keine ersichtlichen Opfer auferlegt. Die aber die Entscheidungen fällen, die Führer, sollten eigentlich zu den restlichen zehn Prozent zählen.

Ganz merkwürdig ist die Beobachtung, daß der allgemeine Konsens nur dann die Vollkommenheit verlangt, wenn er die Möglichkeit hat, selbst das eine oder das andere zu wünschen. In den Museen, vor den Bruchstücken, brechen dieselben Leute in laute Verzückung aus, die es ausgeschlossen finden, die Muse der Sparsamkeit ohne Bienenkorb zu lassen. Das Begeistertsein vor dem Torso kann man erklären. Denn eine plastische, dichterische, kompositionelle Idee ist unzerstörbar. Der Teil gilt in der Kunst für das Ganze. Der Dichter ist in der Einzelstrophe und die Antike im Säulenstumpf vollkommen gegenwärtig. Da die Wirkung des Kunstwerks in einem Ergriffensein des Beschauers beruht, in einer Kettenreaktion des Gefühls, da diese Entzündung durchaus nicht aller Kapitel des Werkes bedarf, da die nachschaffende Phantasie den Erreger verstärkt, so ist die Wirkung der kopflosen Nike unvergleichlicher, ja göttlicher als die der untadelig erhaltenen Figur. Das verschleierte Bild erzeugt die Ehrfurcht. Denkt man an die Tempel, von denen kaum ein Teil des Gebälks erhalten blieb, oder an die armlose Göttin im Louvre, so mischt sich zur namenlosen Schönheit noch die Trauer über das an dem Werke sichtbar gewordene Schicksal. Die großartige Wirkung des Geistigen, die im Bruchstück noch das Jenseitige enthält, erklärt es, weshalb die an Kultur wie an Gütern reicheren Zeiten keineswegs die Gipskopfhersteller auf die Antiken losließen. Die verständigen Oberhäupter waren selbst Künstler und „Künstler weinen nicht“. Sie wissen, daß auch das Erhabene stirbt oder 6ich wandelt und daß man aus dem Lebendigsten, der Kunst, nicht Mumien machen darf. Außerdem sind Künstler stolz. Sie trauen sich zu, etwas Neues zu machen, das mit Ehren gegen das Unwiederbringliche, Verlorene besteht. Ebenso würden ja unsere heutigen Bildhauer es richtig finden, daß man das Geld für die Gipsköpfe ihnen zur Schaffung lebendiger Werke zuteilt.

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