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Die verkehrte Welt

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Unter den Tafeln, die unsere Gemäldegalerie von Pieter Bruegel besitzt, erwecken besonders die frühen Massenbilder (Die Kinderspiele, Der Streit des Karnevals mit den Fasten, Der Turmbau zu Babel) die Neugier des Betrachters. Die Malerei dieser Werke erscheint unerschöpflich und eine gewisse Doppelbodigkeit wird sichtbar. Wie jede echte Kunst existiert sie für verschiedene Schichten von Betrachtern, weil sie selbst mehrschichtig ist. Man kann sich mit einer ersten Lesung zufrieden geben, wie der naive Betrachter sie als Ausdruck des Humors genießt. Dem fleißigen Auge aber, das diese Malerei buchstabiert, wird der Vorhang aufgezogen und hinter der Dro-lerie einer unbeschwerten Fröhlichkeit wird in schrittweiser sinngemäßer Erschließung jedes Bilddetails die hintergründige Maskerade menschlichen Seins sichtbar. Nicht zu jeder Zeit wird eine solche Kunst verstanden, aber gerade der heutige Betrachter scheint wieder reif, die Aufgaben, welche eine solche Malkunst stellt, zu bewältigen. Wie auf eine Bühne blickt man von oben auf ein Gewimmel, das keinerlei geordneten Aufbau zeigt, buntleuchtende Flecke sind scheinbar regellos über die Bildfläche ausgebreitet. Was im äußeren perspektivischen Sinn „von oben“ betrachtet wird, findet seine adäquate innere psychologische Entsprechung in der hohen Warte, von der herab Bruegel mit scharfer Beobachtung betrachtet und seine Bilder zur Com£die humaine gestaltet. Aber kein Gesetz sdiöner Formen ordnet das menschliche Treiben, das mit seinen zahllosen Szenen einem Ameisenhaufen ähnelt und dennoch läßt sich in diesen kaleidoskopartigen Bildern ein strenges Kompositionsprinzip aufzeigen, das im Verhältnis von Gehalt und Form eine klar ablesbare Bild-rechnung aufstellt.

In der Kreuztragung Christi spielt sich das Hauptmotiv der Erzählung im Mittelgrund ab und der Betrachter braucht einige Zeit, bis er den Sachverhalt erschließt. Das Geschehen erscheint in der Bildgestalt umgekehrt: Die Nebensächlichkeit erwirbt den Rang von Hauptsachen und das eigentliche Bildmotiv wird zur Episode. Erst nach Überwindung optischer Schwierigkeiten dringt man zum eigentlichen Bildthema vor. Genau im Mittelpunkt ist Christus unter dem Kreuz zusammengebrochen, um ihn herum verdichtet sich das Geschehen. An einer Schar von Neugierigen vorbei zieht der Henkerskarren'' mit den beiden Schachern. Mit unerhörter Schärfe der Beobachtung wird bei Bruegel der Weg nach Golgatha zum grandiosen Volksfest, das sich aus hundert Einzelzügen zusammensetzt. Beide Arten der Bildbetrachtung werden möglich. Aus der Ferne ordnet sich die Vielheit zum Makrokosmos und aus der Nahsicht erschließt sich ein reicher Mikrokosmos. Eine ganze Stadt ist auf den Beinen, von allen Seiten strömen gehend, laufend, reitend die Menschen herbei und treiben der unheilvollen Richtstätte zu, die auf dem Hügel in dem ausgesparten Menschenkreis sichtbar wird. Eine reichgestufte Skala menschlicher Empfindungen und Gefühle läßt sich aus den Gesichtern und Bewegungen ablesen. Erst im Wefke Bruegels gelang die EntdeckungderMassen-seele, nachdem die Renaissance das Individuum aus der mittelalterlichen Gebundenheit gelöst hatte. War die Menge im späten Mittelalter noch unselbständiger Träger übergeordneter Bezüge, so führt als erster Bruegel das „psychische Eigenleben einer breiten Volksschicht zu seiner Eigenart und Autonomie“ (Dvorik). Dem hohen Menschentum der Renaissance stellt Bruegel das Massenbild, in dem der Mensch zum namenlosen Träger der Bilderzählung wird, ebenbürtig zur Seite.

Die realistische Bilderzählung dient einer höheren künstlerischen Absicht: Den rechten Bildabschluß bildet eine Radstange, sie wird zum Symbol des Todes, dem Grundakkord der Sphäre um den Richtplatz. Links dagegen erhebt sich am Bildrand ein grünender Baum, er weist auf Wachstum, also auf das Leben, den Gegenspieler des Todes, hin. Beide Sphären erfüllt eine entgegengesetzte atmosphärische Stimmung. Den düsteren Gewitterwolken über der Richtstätte entspricht der blaue Himmel, der sich über die im Sonnenlicht liegende Stadt ausbreitet. Zwischen diesen beiden Polen breitet sich nun das Leben in seiner Fülle aus und fast in der Mitte erhebt sich auf einem Felsen eine Windmühle. Ihr Rad wird zum Symbol des Lebens und seines ewigen Kreislaufes. Damit wird eine Grundkomponente des künstlerischen Charakters Bruegels sichtbar: Die Welt des Sprichwortes. Fast in allen seinen Bildern scheint sich seine eigenste Meinung hinter einem Sprichwort zu verschanzen, das letzten Endes immer wieder auf die Verkehrtheit der Welt anspielt. (Etwa im Vogeldieb.) Darin zeigt sich das tiefste Wesen seiner Kunst, die sich nicht an einen engen Kreis von Kennern wendet, sondern zum moralischen Spiegel wird; der Betrachter ist in die Darstellung mit hineingenommen und soll sich mit all seinem Zwiespalt wiedererkennen. Die Mühle etwa scheint auf das niederländische Sprichwort: „Dat gaat zoo wast als een omloopende Windmolen“ anzuspielen, zu deutsch etwa: Das dreht sich wie Windmühlenräder. So wird dieses Bild zum großartigen Ausdruck der geistigen Einsicht in das Leben. Wie die Windmühlenräder sich unbeirrt weiterdrehen, so setzt das Leben unbehindert vom äußeren Geschehen seinen Lauf fort. Obwohl die Kreuztragung in den Mittelpunkt gerückt ist, wird sie von der schaulustigen Volksmenge kaum gesehen. Was damit gemeint ist, reicht weit über das Thema selbst hinaus: Alles Große, Erschütternde und Weltbewegende erscheint zuerst als ein unauffälliger Akt in seine Zeit eingeordnet und wird kaum von einer Handvoll Menschen in seiner geschichtlichen Tragweite erfaßt

Dieselbe Grundtendenz scheint auch die Bekehrung Pauli zu beherrschen. Es erscheint durchaus möglich, daß Bruegel zu dieser Komposition von dem im gleichen Jahre (1567) erfolgten Alpenübergang Herzog Albas mit seinen spanischen Truppen inspiriert wurde. Abermals wird das Hauptmotiv als Episode in den Hintergrund verdrängt; das Ereignis des im Wunder der Bekehrung vollzogenen Sturzes vom Pferd wird hier fast zum trivialen Unfall. Es ist die gleiche Einsicht, die sich dem Menschen aus dem Erlebnis der Geschichte ergibt, wie auf der Kreuztragung. Jedes große Ereignis m der Geschichte der Menschheit ist im Augenblick seines Geschehens ein einsamer innerer geistiger Prozeß, der in seiner tieferen Bedeutung von den Mitlebenden nicht erkannt wird. Erst zeitliche Distanz und spätere Entwicklung verleihen ihm Stellung und Wert im historischen Ablauf. Bruegel befreit seine historischen Themen von aller Tradition und indem er retrospektiv jede Konvention einer späteren Zeit ablöst, macht er uns zu unmittelbaren Zeugen des Geschehens.

Man hat lange Zeit Bruegel zum Bauernmaler verniedlicht. Erst die Aufgabe dieses Vorurteils führt zu einem richtigen Verhältnis. Gegenüber dem primitiven Figurentypus der frühen Bilder erscheint in seinen selbständigen Szenen aus dem bäuerlichen Leben die psychologische Einführung bedeutend gesteigert. Die homogene Masse der Frühwerke, mit ihrer über die ganze Bildfläche ausgebreiteten monotonen Bewegung, wird gespalten und in einzelnen Teilen weitergebildet, die nun organischen Gesetzen folgen. In der Bauernhochzeit wird der leibliche Genuß zur festlichen Lebensfreude erhoben. Das Bild wird zum Sinnbild dieses freß- und sauf lustigsten Jahrhunderts, in dem das niederländische Volk die großartige Fähigkeit besaß, das Leben aut jede Art festlich zu erheben. In den großen Vordergrundsfiguren, in dem Wein einschenkenden Mann und den beiden Knechten, die auf einer ausgehängten Tür immer neue Speisen heranschleppen, wird klar gemadit, was für Mengen genossen werden. Wieder wird das Hauptmotiv in den Hintergrund gedrängt, so daß man kaum imstande ist, mit Sicherheit den Bräutigam herauszufinden.

Vergeblich wird man im Werke Bruegels Einflüssen nachspüren, die auf Berührung mit der italienischen Kunst hinführen, die er ja sicherlich auf seiner Reise kennengelernt hatte. Das strenge Kompositionsprinzip der Renaissance scheint überwunden und auch von den zeitgenössischen niederländischen Manieristen unterscheidet ihn ein gänzlich anders orientierter Gestaltungswille. Das Zentralerlebnis seiner Kunst ist die Gestaltung der Landschaft. War die Natur in seinen ersten Bildern noch Attribut, etwa der angefügte Raumabschluß eines Himmelsstreifens, so wird sie nun zum beherrschenden Bildthema. In den großen Landschaftsbildern liegt Bruegels eigentlichste künstlerische Großtat. Das Erlebnis der Natur im Wechsel der Jahreszeiten weitet sich bei ihm zum Kosmos, in den der Mensch eingeordnet ist und aus den heraus er Sinn und Schicksal erfährt. Schon in den Frühbildern ist die Landschaftsmalerei keimhaft vorgebildet; sie fußt dort aber noch auf der Tradition der zeitgenössischen Auffassung. Auch seine Landschaften komponiert er aus einzelnen Bildelementen, aber in ihrer atmosphärischen Totalität fügt er Ebene und Meer, Gebirge und Himmel, Tier und Mensch zu einem kosmischen Weltbild. In seinem Winterbild Die Jäger im Schnee wird der Blick durch die Gruppe der Jäger mit den Hunden und den in gleicher Richtung angeordneten Bäumen in den Bildraum eingeführt. Der Betrachter muß gleichsam die Widerstände, die sich dem Vordringen entgegenstellen, überwinden, um sich den atmosphärischen Raum zu erschließen. In der klimatischen Stimmung, wie sie besonders im Farbigen zum Ausdruck kommt, wird das Erlebnis eines trüben, frostharten Wintertage spürbar. In der farbigen Substanz wird sichtbar, wie der Maler die Natur in ihrer atmosphärischen Gesamtheit erlebt; durch fein beobachtete Farbunterschiede gelingt es ihm, jeden Monat in seiner spezifisdien atmosphärischen Erscheinung zu charakterisieren. (Heimkehr der Herde, Der düstere Tag.) Damit greift Bruegel weit über seine Zeit hinaus und der systematischen Darstellung der Landschaft im Zusammenhang mit den Jahreszeiten begegnen wir erst wieder bei den Impressionisten des späten 19. Jahrhunderts; damit ist aber mehr eine Andeutung als ein Vergleich “meint.

Bruegel steht mit seiner Kunst zwischen den Zeiten. In der Weltgläubigkeit, wie sie nach dem Zusammenbruch der mittelalterlichen Welt und ihrer geistigen Kultur anwuchs, zeigt sich zugleich jene skeptische Kritik, die über Jahrhunderte hinweg mit schweren Gewichtern auch auf unserer unmittelbaren Gegenwart lastet. In der Renaissance wurde das Schicksal des modernen Menschen geboren. Vielleicht erkannte Bruegel als einer der ersten in der geistigen Krise die große Gefahr, welche mit der Renaissance heraufgekommen war, indem sie an die Stelle der mittelalterlichen transzendenten Bindungen die Vergöttlichung des Menschen und der sichtbaren Welt setzte.

Bruegels Werk kann als ein Versuch gedeutet werden, die aus der mittelalterlichen Bindung herausgetretene Welt, der sich der Mensch in blinder ausschließlicher Irdischkeit zuwendet, als eine verkehrte Welt zu entlarven. In seinem Verzicht auf letztliches Bezogensein auf Gott hin verliert Mensch und Welt Sinn und Richtung.

Scheint dieses Schicksal nicht gerade in der Kreuztragung Bruegels nahezu programmatisch sichtbar zu werden? In dem Augenblick da die Welt Christus verliert, sinkt das Dasein zur Sinnlosigkeit, in ein ungeordnetes Chaos und umgekehrt: Eine Welt, die sich richtungslos einer selbst-täuschenden Weltbezogenheit überläßt, muß Christus übersehen Im Werke Bruegels begegnen wir nicht mehr der Dämonenfurcht, die uns noch be; dem Gotiker Hieronymus Bosch, seinem großen Vorläufer, packt; seinem Glaubensfanatismus steht Bruegel als Humanin gegenüber, mit tiefer Gläubigkeit und wahrem Verständnis für die Schwächen des Menschlichen und Allzumenschlichen, die zutiefst in christlicher Barmherzigkeit und Duldsamkeit verankert sind. So gehört Bruegel zu den großen und echten religiösen Malern des Abendlandes.

Die Zeit in der seine Bilder entstanden war von gährenden Umwälzungen und geistigen Gefahren bedroht. Nicht nur als Künstler, sondern mehr als Seher wollte er den bedrängten Menschen, die durch seine Bilder oft wie Blinde blicklos irren, die Augen für den richtigen Weg öffnen. Mit der unheimlichen Intensität des Frühver brauchten reift sein Werk im letzten Lebens Jahrzehnt zur Vollendung und wird zum persönlichen Bekenntnis, in dem sich da--eigene Ich durchsetzt Mit gleicher Eindringlichkeit packt uns dann derselbe Geist einer ringenden Seele, wie er aus dem Bekenntniswerk eines Michelangelos, Grünewalds oder Rembrandts zu uns spricht.

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