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PROBLEME EINER BILDERGALERIE

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Auf den ersten Blick erscheint Tizians Gemälde „Allegorie der Frudenitiia“, das Englands Nationalgalerie erst vor kurzem von David Koetser zum Geschenk erhielt, rächt als eine der eindrucksvollsten Kompositionen des Meisters. Das Bild, das drei miteinander verbundene Köpfe zeigt — einen alten Mann, einen Mann auf der Höhe des Lebens und einen Jüngling —', die über den Köpfen eines Wolfes, eines Löwen und eines Hundes angeordnet sind, ist ein Alterswerk-Tizians, der es zwischen den Jahren 1560 und 1570 malte. Der alte Mann stellt den Maler selbst -dar. Man nimmt an, daß Tizian das Bild schuf, um darin die rechtlichen und finanziellen Maßnahmen, die er zur Sicherung seiner Familie getroffen hatte, bildlich festzuhalten. Der reife Mann wird für Tizians Sohn und Gehilfen Oraizio gehalten und der Jüngling für Marco Vecelilii, einen entfernten Verwandten Tizians, der von dem Maler wie ein Enkel angesehen und gehalten wurde. Die tiefere Bedeutung der allegorischen Darstellung wird zweifellos von vielen Betrachtern des Bildes nicht erkannt werden. Dennoch handelt es sich dabei um ein Werk von außergewöhnlicher Qualität,

Dieses Gemälde Tizians gehört zu einer ganzen Reihe von Neuerwerbungen, danunter viele wirklich bedeutende Werke, die von der Nationalgalerie in den letzten Jahren angekauft und in der Öffentlichkeit lebhaft diskutiert wurden; ein Beweis, daß diese Sammlung lebt und sich ständig weiter entwickelt.

Die Nationalgalerie in London war und ist in einer ähnlichen Lage wie die modernen Bildergalerien der Vereinigten Staaten insofern, als sie nicht, wie die meisten großen europäischen Sammlungen, auf einer bereits vorhandenen umfangreichen Sammlung aufbauen konnte. Das Ereignis, das zur Gründung der Nationalgalerie führte, war der Tod John Julius Angersteins im Jahre 1823, eines reichen und kunstverständigen Londoner Gesdiäftamannes und Sammlers. Angersteins Gemäldesammlung in seinem Haus in der Paul Mall war der Öffentlichkeit schon bei seinen Lebzeiten zugänglich gewesen. Als sie nach seinem Tode verkauft werden sollte, bemühten sich private und offizielle Stellen, die Sammlung der Nation zu erhallten. Der damalige Premierminister, Lord Liverpool, unterstützte diese Bestrebungen, und ein Jahr darauf bewilligte das Parlament den Betrag von 57.000 Pfund für den Ankauf der 38 Bilder der Angerstein-Kollektion.

In der Geschichte der Nataonaflgalerie, die 1831 ihr Gebäude am Trafaflgar Square bezog, fehlt es nicht an Krisen. Uber die Reinigung und Restaurierung von Bildern entstanden 1846 und 1852 lebhafte Kontroversen in aller Öffentlichkeit, die zu einer parlamentarischen Untersuchung und letzten Endes zur Ernennung ihres ersten Direktors — Charles Eastlake — führten. Zehn Jahre lang reiste Eastlake dann ins Ausland und erwarb auf diesen Reisen insgesamt 137 Bilder für die Galerie, darunter einige ihrer kostbarsten Schätze wie etwa die „Taufe Christi“ von Piero della Francesca, „Die Familie des Darius vor Alexander“ von Veronesa, die maniristische Allegorie „Amor, Venus, die Narrheit und die Zeit“ von Bronzino. Das Wachstum der Nationalgalerie hielt auch in den Anfängen unseres Jahrhunderts weiter an. 1903 wurde ein Fonds für Anschaffungen — The National Art Collections Fund r- gegründet, eine typisch britische Lösung, um der stetig zunehmenden amerikanischen Konkurrenz auf den Kunstmärkten zu begegnen. Dieser noch heute bestehende Fonds wird ausschließlich aus privaten Spenden gespeist; er konnte schon sehr bald nach seiner Gründung beachtliche Erfolge für sich buchen. Mit seinen Geldern gelang es, 'die „Rokeby Venus“ von Velasquea und Holbeins „Porträt der Christine von Dänemark“ der Galerie zu erhalten, letzteres mit Hilfe einer anonymen Spende von 40.000 Pfund, die gerade noch rechtzeitig eintraf, um ein Abwandern des Bildes ins Ausland zu verhindern.

Zu dieser Zeit galt die Nationaligälerie bereits als eine der reichhaltigsten Sammlungen der Welt, ein Ruf, den sie auch heute genießt. Ja, viele Kunstsachverständige meinen, daß die Nationaligälerie vielleicht die ausgewogenste der großen Kunstgalerien sein dürfte. Natürlich hat sie neben ihren Stärken auch ihre Schwächen, Bei den Schwächen wäre beispielsweise die Kollektion französischer Malerei nach dem 17. Jahrhundert zu erwähnen. Die Nationalgalerie besitzt nur wenige französische Gemälde aus dem 18. Jahrhundert, und diese sind nicht gerade die besten. Allerdings versucht sie, diesen Mangel durch einen reichhaltigen Querschnitt der französischen Malerei des 19. Jahrhunderts weit-

zumachen. Die in der Nationalgalerie gezeigten Holländer repräsentieren eine eigenartige Mischung. Ramibrandli ist hervorragend vertreten, dazu komimen Werke Vermeers und einige mit Recht berühmte Werke Pdeter de Hooghs aus der Frühzeit des Meisters, die allgemein als seine beste Schaffensperiode gilt. Jedoch rindet man nur wenig von den intellektuellen und nicht so bekannten holländischen Meistern, was uim so verwunderlicher ist, als englische Privatsaanmlier bis auf den heutigen Tag eifrige Bewunderer der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts geblieben sind. Die Spanier sind gut und zahlreich vertreten. Die Velasquez-Kollektion gilt mit voller Berechtigung als eine der größten Schätze der Nationalgalerie, ebenso einige vorzügliche Porträts von Goya. Die itahenische Schule ist in allen ihren Varianten gut vertreten. Besonders hervorzuheben sind die Werke der florentimischen Meister des

15. Jahrhunderts sowie die Arbeiten der Venezianer des

16. Jahrhunderts.

Wie nicht anders au erwarten, ist die englische Malerei mit Werken vertreten, die zu dem Besten gehören, was in dieser Hinsicht in Museen überhaupt zu sehen ist. Aber obgleich die Nationalgalerie wohl einige der besten und bekanntesten Arbeiten zeigt, bleibt es doch in der Hauptsache der Tate-Gaierie überlassen, einen detaillierten Querschnitt durch die englische Malerei zu geben. Die Nationalgalerie ist reich am Bildern, die eng mit der Geschichte Englands verknüpft, sind, beispielsweise das „Wilton Diptych“, das König Richard II. zeigt, wie er von seinen Schutzpatronen der Madonna mit dem Kind anempfohlen wird, oder etwa Memlings „Dorane Triptych“, das für einen englischen Auftraggeber gemalt wurde, und Goyas „Porträt des Herzogs von Wellington“.

In den Nachkriegszeiten hat die Nationalgalerie eine Reihe von Neuerwerbungen aufzuweisen, die so leicht nicht von irgendeinem anderen Museum erreicht werden wird. Einige der besten Stücke gingen unter besonderen Umständen in den Besitz der Galerie über, wie das oben erwähnte „Donne Triptych“, das an Stelle von ausständigen Erbschaftssteuern für den Nachlaß des Herzogs von Devonshire in Zahlung genommen wurde. Erwähnenswert sind hier vielleicht auch diejenigen Werke, deren Ankauf und die dazu vom Kuratorium oder Direktor ergriffenen Initiative letzten Endes doch gerechtfertigt schien. Der Verlust einiger dieser Bilder, wie beispielsweise Uccellos kleinem Bild „St. Georg und der Drache“, das aus der ehemals in Wien befindlichen Lancko-ronÄu-Samcnlung stammte, wird von den Österreichern gewiß schmerzlich empfunden werden. Dieses Bild wurde beim Ankauf nicht einmal sehr gut aufgenommen und dieser lautstark kritisiert; inzwischen aber hat sich diese Neuerwerbung doch auch in Fachkreisen und beim Publikum durchgesetzt.

Ein weiteres Anliegen des Direktors und des Kuratoriums war Ä Auffüllung von Lücken an Werken des französischen Impressionismus und Post-Impressionismus. Die Nationalgalerie besitzt das Recht, Bilder von der Tate-Gale-rie zu übernehmen, sobald diese nicht mehr modern, sondern schon den „alten Meistern“ zuzuzählen sind. Aber natürlich ist die Tate-Gaierie nicht in der Lage, alle Lücken der Nationalgalerie aufzufüllen. Die Galerie ist auch bemüht, ihren Beitrag zum kunsthistorischen Studium zu leisten. Unter diese Rubrik fallen beispielsweise das kleine Bild „Landschaft bei Sonnenuntergang“ von Giorgione und, als jüngste Neuerwerbung, die eindrucksvolle „Kreuzigung“ von dem Meister des heiligen Franziskus aus der Stoclet-Samm-lung in Brüssel. Gerade dieses letzte war eines der, sagen wir „^schwierigen“ Bilder jener Kategorie, die am besten zur Geltung kommen, wenn sie mit sehr guten Meisterwerken kontrastiert werden. Es erwies sich als ein ausgesprochen genialer Kauf. Viele dieser Erwerbungen waren jedoch recht umstritten, ein Umstand, mit dem sich wohl alle öffentlichen Kunstsammlungen abzufinden haben. Der Giorgione zuim Beispiel stieß auf allgemeine Ablehnung — zugegeben, es ist ein stark beschädigtes Stück. Aber die Galerie macht sich wenig aus der Kritik.

Der erbitterste Streit in jüngster Zeit entbrannte über das Thema Restaurierung und Konservierung. Führend bei den Angriffen war die seriöseste und allgemein geachtete Kunstzeitschrift „Burlington Magazine“; unter den Kritikern der Nationagalerie befanden sich bekannte Kunsthistoriker. Als der Streit auf seinem Höhepunkt war, kann ich mich an eine Debatte im Londoner Institut für zeitgenössische Kunst erinnern, bei der sich beide Seiten, Kritiker und Restauratoren der Galerie, heftig in die Haare gerieten. Die Galerie ist der Ansicht, daß die Konservierung von Bildern eine Wissenschaft ist und daß Gemälde einer gründlichen Reinigung bedürfen, damit der Betrachter dem Original des Künstlers so nahe wie nur irgend möglich kommt. Die Kritiker wünschten (selbst in jenen Fällen, in denen die Reinigung mit äußerster Vorsicht und ganz zart vorgenommen wurde) eine wärmere, nicht so kompromißlose, mehr von ästhetischen Gesichtspunkten her bestimmte Behandlung. Die eine Seite verwirft eine rein geschmacksbedingte Restaurierung, die andere wiederum macht die Sensibilität zum Fetisch. Bezeichnenderweise waren es diejenigen Bilder, bei denen die Farbtöne von größter Bedeutung waren, die das lauteste Wehgeschrei hervorriefen — Tizians Werke insbesondere wurden in ihrem frisch gereinigten Zustand mit einem wahren Aufschrei des Abscheus bedacht.

Leicht möglich, daß sich dieser Streit, der nun schon fast seit der Gründung der Galerie im Gange ist, noch lange Zeit hinziehen wird. Vielleicht ist es gut so und zu begrüßen, daß die Öffentlichkeit und die Fachwelt ein Auge auf alles hat, was in der Nationalgalerie vor sich geht. Probleme und Streitfragen dieser Art sind ein Zeichen von Vitalität — und an dieser mangelt es der Nationalgalerie gewiß nicht.

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