6574772-1950_38_07.jpg
Digital In Arbeit

Kunst des frühen Mittelalters

Werbung
Werbung
Werbung

Im Sommer vergangenen Jahres zeigten auf einer Ausstellung in Bern die verschiedensten Bibliotheken und Museen Kunst des frühen Mittelalters. Nur einer ganz kleinen Zahl Deutscher war es möglich, diese Schau zu sehen. So wurde der Wunsch laut, die Ausstellung auch in Deutschland zu -eigen. Die bayrische Staatsbibliothek, die in Bern schon mit sehr vielen Handschriften vertreten war, eröffnete nun im Sommer dieses Jahres Im Prinz-Karl-Palais in München eine Ausstellung mit vielen in Bern gezeigten und anderen neuen Werken. Da es fast ausschließlich geistliche Kunstwerke sind, erhielt die Schau den Namen Ars sacra.

Bibliotheken, Archive und Muäeen aus ganz Westdeutschland, Frankreich und Österreich haben einen Teil ihres wertvollsten und schönsten Besitzes nach München geschickt. So kam eine Schau frühmittelalterlichen Schaffens zusammen, wie sie vorher in Deutschland noch nicht zu sehen war.

Aus der SpätanUke der vorkarolingisdien, karolingischen, ottonischen und romanischen Zeit werden 400 Handsdiriften, Elfenbein- und Goldschmiedearbeiten, Holz- und Elfenbeinskulpturen, Stoffe und Stickereien gezeigt. Aus der österreichischen Nationalbibliothek Wien, der Innsbrucker Universitätsbibliothek und dem Salzburger Domschatz stammen die österreichischen Schätze. Unter ihnen ist ganz besonders die Wiener Genesis zu erwähnen, von der drei prachtvolle Blätter ausgestellt sind. Vermutlich zu Anfang des 6. Jahrhunderts entstanden, ist sie die bedeutendste Handschrift des altchristlichen Ostens.

Jeden, den Fachmann wie den Laien, ergreift große Ehrfurcht, wenn er die 1400 Jahre alten ägyptischen Zierstoffe sieht, die Handschriften und Buchmalereien des 7. bis 11. Jahrhunderts und die handwerkliche Kunst des frühen Mittelalters bewundert: Sei es der Codex aureus, dessen Buchdeckel mit Goldblech, Perlen und Edelsteinen kunstvoll gearbeitet Ist, sei es der Tragaltar König Arnulfs, dessen Holzkern ganz mit getriebenem Goldblech überzogen und mit Edelsteinen gealert ist, sei es die Krone der hl. Kunigunde, der Krönungsmantel Kaiser Heinrichs II. oder das Grabkreuz der Gisela von Burgund, um nur einige der schönsten Stücke zu nennen.

Wie interessant ist es, den Wandel der Darstellungsweise an den zwei Deckeln eines BMenbeineinbandes zu verfolgen. Der eine aus dem 5. Jahrhundert zeigt die Verleihung der Ernennungsurkunde durch den Kaiser an den Konsul, der andere aus dem 13. Jahrhundert stellt die Kreuzigung und Himmelfahrt Christi dar. Beide umspannen den Zeitraum, innerhalb dessen die gezeigte Kunst liegt. So ist dieser Einband, möchte man sagen, ein Symbol für den Rahmen der Ausstellung.

Der sich im Mittelalter wandelnde Gottes-' begriff von Christus dem Herrscher (Romanik) zu Jesus dem Seelenfreund (Gotik) läßt sich in seinen ersten Spuren an drei tief beeindruckenden Kreuzen der Ausstellung ablesen. Das Kruzifix aus dem ehemaligen Benediktfner-kloster Ringelhelm, das aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts stammt, zeigt die unnahbare Majestät Christi. Das zu Meditationen anregende Bronzekruzifix aus dem Ludgeri-kloster in Helmstedt von ungefähr 1070 hat die Unnahbarkeit verloren, das Kruzifix aus Milberhofschen (bei München) vom Anfang les 12. Jahrhunderts zeigt eine ergreifende Hingabe. Alle drei Kreuze sind aber noch echte romanische Kunst.

Voller Erwartung tritt man vor das erste erhaltene Porträt der deutschen Kunst, die Büste des Kaisers Friedrich LI So also sah der Mann aus, der beim .Aufgang Europas eine so bedeutende Rolle spielte, der die renovatio imperil durchführen wollte: unsympathisch, herrschsüchtig, kalt.

Kunsthistoriker und Historiker sind glücklich, in dieser Ausstellung Schätze ausgebreitet zu sehen, von denen sie oft gehört und gelesen, die sie vielfach aus Abbildungen kennen, die sie im Original selten geschaut haben. Die Fülle des Materials bietet die Möglichkeit, interessante kunsthistorische, geistesgeschichtliche, paläographische und philologische Studien und Vergleiche zu machen. Auch der Laie kann seine Kenntnisse bereichern.

Hat aber die Ausstellung nicht noch eine tiefere Aufgabe? Hans Sedlmayr könnte sich keine bessere illustrierte Beweisführung für seine These vom Verlust der Mitte wünschen wie diese Ausstellung. Wer mit wachen Sinnen an den Vitrinen entlang geht, der sieht, was wir verloren habenl Den Menschen dieser vergangenen Zeit, die gleich große Sünder waren wie wir, war die Bxistenz Gottes noch eine reale Tatsache, Gott war noch die Mitte ihres Lebens. Die Ausstellung vermag ein absolutes Maß zu geben. Wer im ernsten Bestreben, moderner Kunst gerecht zu werden, leicht einem Subjektivismus verfällt und die Norm nicht mehr erkennt, der kann hier wieder lernen, seine Begriffe richtigzustellen.

Betrachtet man die feinen Elfenbeinarbeiten, die über tausend Jahre leuchtenden Farben der Buchmalerei, die handgearbeiteten Goldblechkunstwerke, dann mag der Hochmut und die Einbildung auf den Fortschritt und die Technik der modernen Zeit vergehen. Damals blühte eine Kunst, mit der sich die des technischen Zeitalters nidit messen kann. Sieht man die schlichte, einfache Gläubigkeit, die aus so vielen Bildern spricht, so fragt man sich, ob wir nicht die „Errungenschaften“ des modernen Menschen mit einem zu großen inneren Substanzverlust haben bezahlen müssen!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung