Literatur - © Foto: Alfons Morales / Unsplash

Lydia Mischkulnig: Nachrichten von der Literaturpolitik

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Was tut und will Literatur, was Politik? Wie ist ihr Verhältnis zueinander? Wo überschneiden sie sich vielleicht? Und was hat mit all dem die Ironie zu tun -Kafkas Brücke und Preußlers Hexe?

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Was tut und will Literatur, was Politik? Wie ist ihr Verhältnis zueinander? Wo überschneiden sie sich vielleicht? Und was hat mit all dem die Ironie zu tun -Kafkas Brücke und Preußlers Hexe?

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Die literarische Erkundung von Welt braucht ein Werkzeug. Die Distanz. Sie ist das Werkzeug der Ironie, mit ihr zerre ich die Dinge ans Licht, besser gesagt, Distanz erhellt mich und horcht mich aus.

Ich höre die Begriffe kichern, wenn ich sie beim Namen nenne. Sie verstellen sich und besagen nicht, was sie meinen. Es sind ja nur Namen. Für welche Dinge? Was ist denn meine Sprache? Sie ist das Wunschkonzert der protagonistischen Unterdrückungsleistung meiner Charaktere.

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In Kurzgeschichten wird einmal dies, einmal das besungen, ja, wo steckt denn die politische Bedeutung drin? Ich glaube, sie steckt nicht in den Charakteren oder dem Thema, sondern in der Beschreibung von Details, in denen sich die Stimmung verbirgt, die ein politisches Klima erzeugt.

Der Versuch, sichtbar zu machen, nämlich die Verhältnisse, in denen die Pro- und Antagonisten stecken, geht aus ihren Aktionsmöglichkeiten hervor und ihren Perspektiven, aus den Rollen, die ich als Autor zuschreibe, und damit aus meinem Vorstellungsraum als Frau, der politisch gestaltet ist und auch vorgegeben. Diese Gestaltung erlaubt es, das Material der Wirklichkeit zu hinterfragen, es durchzuarbeiten und meine Sprache zu verfertigen, und zu sagen, das bin nicht ich, das ist nur eine Stimme. Die Ironie liegt in diesem Paradox, dass ich sage, was nicht ich sage.

Zeichen können von allein nichts

Politik hat ein Lösungsprogramm vorzuschlagen, und ich habe nur mich zu erlösen von dem Einfall, der ausgeschrieben werden will mit den Mitteln eines Stipendiums, das der Steuerzahler und die Steuerzahlerin einräumen, weil diese demokratische Gesellschaft in Österreich es noch für richtig erachtet, dass die literarische Schöpfung des Landes gesichert bleibt.

Die Literatur ist die Einschulung in Toleranz und Selbsterkenntnis, dass ein jeder sich beim Schopfe packen und mal lesen lernen solle, um Literatur zu realisieren.

Eine Förderungsliteratur also wird erzeugt und auf dem Markt entsteht eine konzernförderliche Literatur, deren Vielfalt verloren geht. Das ist die politische Ausuferung der neoliberalen Konditionierung. Das ist das Problem des Buches, dass es gelesen werden muss, um realisiert zu werden, und deshalb die Leser und Leserinnen braucht. Das ist das Problem der Sprache, denn wenn ich für mich allein spreche, so bin ich tot wie der Autor, der nicht gelesen wird, also nicht realisiert.

Die Zeichen stehen für sich allein auf dem Papier herum und können von allein nichts. Sie sind nur organisiert, stimulieren den Leser zur Inszenierung der Geschichte. Er singt mit den Augen die Noten vom Blatt und sein Geist ergänzt die literarische Melodie mit ausmalenden Klangfarben der Empathie.

Auftrag, den Verstand zu schärfen

Politik sucht Lösungen aus Sachzwängen, die Sachzwänge herstellen, was neue politische Probleme schafft. Politik verantwortet nicht ihr Scheitern, darin zeigt sich ihr Anspruch auf Macht, die keine ironische Distanzierung von der Verfehlung ihres essenziellen Zieles ist, sondern Politik.

Literatur setzt in Kontext und schafft es, auch auf Schiene gesetzte Beschönigung von Wirklichkeit in Richtung Verleugnung zu stoppen, die Weichen zur Aufklärung in der nationalen Geschichtsschreibung zu stellen. Politik hinkt dieser Macht hinten nach. Die Macht des Wortes zeigt sich negativerweise in schwachsinnigen Hetzschriften, wie den Protokollen der Weisen von Zion. Politik und Literatur haben den Auftrag, den Verstand zu schärfen, wider das Verschwörungsdenken.

Literatur hat den Auftrag, die Sinne zu befriedigen und nicht Sinn zu produzieren, eher den Sinn für Unsinn zum Genuss einer freien Gesellschaft. Jeder Sinn bedeutet ein Versprechen und führt zum Realitätsverlust. In einer säkularen Gesellschaft wird angenommen, dass es keine Verschiebung auf ein Jenseits gibt, wo das menschenwürdige Leben losgeht. Menschenwürdig heißt in Freiheit. Und da knallt es, und die Toten liegen auf der Gasse, während ein Fenstergucker hinunterschaut und mitfilmt und ruft: Was ist passiert?

Das ist passiert auf dem Küchentisch in Venedig, wo der Computer die Bilder aus Paris einspielt. Das ist passiert und draus mach ich Literatur. Das klingt eigenmächtig und vermessen, ist aber so. Libération!

Literatur braucht ihre Sickerzeit, um zu entstehen und Geschehnisse zu begreifen. Literatur ist nie auf der Seite einer Politik mit ihrer überheblichen Gewissheit, Literatur schaut in die Ängste, schaut in die Zwischenräume, lernt die Grautöne der Schatten zu unterscheiden, die die Trugbilder werfen, als ironische Zeichen.

Mit meinen Augen lese ich die Zeichen als Botschaft über mich, weil ich politisches Material, Titelblätter aus Paris am Facebook voyeurisiere.

Erinnerst du dich? Beispielsweise an einen Punkt, wo sich Literatur und Politik überschnitten und zwar nur in dir? Ironische Distanz? Wo hast du sie erfahren, diese paradoxe Nähe? In der Beobachtung, dass Verstehen ein Gefühl ist und keine Tat? Dieses Verständnis erbringt Literatur: Sie kann Moral verdeutlichen ohne moralistisch zu sein. Sie packt dich, wo du gar nicht damit rechnest, und sie stellt dich in Frage und eröffnet dir eine Zeit, die es gar nicht mehr gibt, aber du bist dann in ihr und gleichzeitig hier.

Andrej Kokot schrieb in seinem Buch "Das Kind, das ich war" über die Deportation seiner slowenischen Familie aus dem Ort Köstenberg, der unweit meiner Heimatstadt liegt. Er schrieb von einem Bauernhof, dort wo er herkam, wie er als Kind auf dem Anhänger des Deportationsfahrzeuges saß und die Abfahrt ins KZ als Reise empfand. Er hatte den Nachbarn gewunken, die Zurückgebliebenen bedauert für das ihnen entgehende Abenteuer.

Manches will man nicht erzählt bekommen, weil es zu intim ist, weil man dazu allein sein muss mit dem Text. Etwa mit der Erzählung des deportierten Kindes, das mit etwas Glück freikommt und zurückkehrt an den Ort, wo das Gras von den Fußsohlen identifiziert wird, jeder Apfel vom Baum seinen Geschmack auf der Zunge entfaltet, wenn schon das Wort Apfel nur im Mund ist, wo das Haus und der Stall weiß gekalkt erscheinen, wo die Zimmerfluchten mit ihren Lichtschaltern und der Herd und das Holz und die Zünder bereitliegen, wo der Rückkehrer heimisch ist, weil er weiß, wie das Haus funktioniert und das Gras und der Apfel, doch trotzdem im Versteck bleiben muss, obwohl alles nach ihm schreit. Es wäre tödlich, sich als slowenischer Einheimischer zu erkennen zu geben, weil der Kontext es so wollte.

Akt gegen die Vergänglichkeit

Ich werde in die Geschichte versetzt, während die Geschichte die Kontexte schon wieder verschoben hat und mich neu zusammensetzt, so dass ich Kontexte zu schaffen beginne, die Konstellationen schaffen, um Flüchtlingsströme einzubetten. Das leistet Politik nicht so schnell in Österreich. Sie bietet jetzt einmal eine Pause am Bahnhof, aus der Literatur entstehen wird. Was werden die begabten Flüchtlinge schreiben, welche Literatur wird entstehen, wenn erst einmal die Bindung zu meinem Lebensort Wien stattgefunden haben wird? Welches Wien ergibt sich daraus? Ich freue mich auf die Literatur der Ankommenden.

Politik kann nie fertig sein, obwohl sie am Ende Entscheidungen trifft, was fertig macht, während Literatur in ihren Werken ein Ende setzt, gleichzeitig den Ewigkeitsanspruch erhebt, also Gültigkeit. Literatur ist ein Akt gegen den Tod, gegen die Vergänglichkeit. Libération.

Ist der politische Impetus des Autors das Thema, so ist das auch gut, wenn dieser Impetus eine Form hat - das heißt eine Geschichte entfaltet, die sich in Dystopie ergeht. Gesundheitspolitik, Kontrollwahn, die Verdinglichung des Menschen, seine Selbstausbeutung, die ich betreibe, wenn ich um wenig Geld zu veröffentlichende Texte schreibe, weil die Politik versagt hat und keine Bedingungen zu schaffen vermag gegen die Marktinteressen des Profits und der Gier, die mir die Ironie wegnimmt und sie gegen mich richtet, durch faule Tricks wie "sei kreativ flexibel", und damit meint, befülle den Rahmen, den ich dir zur Verfügung stelle.

Im Prinzip kann Literatur immer ans Licht holen, was der politische Konsens nicht aushält. Also kann Literatur stören und aufwerfen. Literatur ist ein Container der Konstellationen vergangener Politiken und ihrer Projektionen. Literatur ist nicht Content, denn sie erzeugt ihr eigenes Format. Wer ist dieses Wer? Die Entscheidung wird getroffen, die Realität zu stiften, womit die Möglichkeit zu erkennen überstiegen wird. Fallhöhe wird Fallstrick. Die Literatur schaut mit dem ironischen Blick zu, wie das Scheitern gelingt. Wenn Politik scheitert, ist das kein Spaß, auch kein Trost und auch keine Ressource für die Literatur. Literatur und Politik? Was kann die Verquickung? Lesende Politiker verstehen den Zusammenhang von Kanalsystem und ihrer eigenen Toilette.

Ironie lernen

Wo aber lernt man Ironie? In der Literatur. Gute Kinderbücher bringen diese Leistung, wenn sie keinen politischen Gehorsam transportieren, keine Moral und keine Edukation beabsichtigen, wenn sie Kinder ernst nehmen und ihre Unsicherheiten und Verwirrungen, Ängste und Wut mit Ironie zur Sprache bringen. Otto Preußler liefert eine Ironie-Erfahrung, die mir das Leben bis heute erleichtert.

Ich war vielleicht acht, als ich "Die kleine Hexe" las. Die ersten Sätze zogen mich in den Bann: "Die kleine Hexe feierte ihren 121. Geburtstag. Das war für eine Hexe noch kein Alter." Ich wusste, hier erzählt mir wer etwas Falsches, und er weiß, dass ich es weiß, und darin lag der Witz, zu spüren, dass jemand versteht, dass ich verstehe, und mit großer Befreiung stellte ich fest, dass die kleine Hexe nicht größer sein konnte als ich. Doch sie war viel älter, älter noch als meine bekopftuchten Omas, die keine Zähne mehr hatten und dauernd vom Sterben sprachen und damit Angst einjagten. Und nun gab es jemanden, der mit 121 kein Alter hat. Die Hexe sah zwar aus wie 121 und die Illustration zeigte sie nicht hübsch, kurz: Ich liebte sie.

So lässt sich überleben, du darfst nur nicht an die Märchen glauben, die dir die Politik der Einschüchterer erzählt. Die Hexe ist bucklig und sie hat eine krumme Nase und zerzauste Haare und einen Raben auf der Schulter sitzen. Es gibt sie nicht wirklich, aber als Leserin ergänze ich die Figur aus Sprache mit meiner Erfahrung, meinen Zweifeln, meinen Irritationen, und bringe Worte mit meiner Vorstellung zur Verwirklichung, da ich mich durch sie verstanden fühle und mir Erfahrungen, jenseits der Mitteilbarkeit, im nachhinein erklären konnte.

Literatur braucht ihre Sickerzeit, um zu entstehen und Geschehnisse zu begreifen. Literatur ist nie auf der Seite einer Politik mit ihrer überheblichen Gewissheit, Literatur schaut in die Ängste, schaut in die Zwischenräume, lernt die Grautöne der Schatten zu unterscheiden, die die Trugbilder werfen, als ironische Zeichen.

Es entsteht nicht Freiheit dadurch, aber Befreiung. Literatur gibt Kraft. Im Akt des Schreibens aber bin ich aufgehoben und im Lesen gerettet. Wie sonst könnte ich, als Schriftstellerin und Leserin im politischen Kontext des europäischen Novembers 2015, Kafkas Satz verstehen: Ich bin eine Brücke.

Die Autorin ist Schriftstellerin

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