Herta Müller - © Foto: imago / Panama Pictures

"Wie behält man seine Würde?" Zum 70. Geburtstag von Herta Müller

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Sie erzählt vom Leben in der Diktatur und untersucht autoritäre Machtkonstrukte: Damit bringt ­Herta Müller das Bedürfnis nach ­Freiheit zum Glänzen. Zum 70. Geburtstag der Literaturnobelpreis-Trägerin.

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Sie erzählt vom Leben in der Diktatur und untersucht autoritäre Machtkonstrukte: Damit bringt ­Herta Müller das Bedürfnis nach ­Freiheit zum Glänzen. Zum 70. Geburtstag der Literaturnobelpreis-Trägerin.

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Als der vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin Herta Müller 2009 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wird, heißt es in der Begründung unter anderem, ihren Werken seien „Landschaften der Heimatlosigkeit“ eingeschrieben. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Land ihrer Herkunft, in Sehnsüchten und Reflexionen über das Dasein in der Diktatur spiegeln sich die Erfahrungen aus ihrem eigenen sehr bewegten Leben wider.

Herta Müller wurde im rumänischen Banat geboren und gehörte dort der deutschsprachigen Minderheit an. In jungen Jahren arbeitete sie als Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik, als eines Tages plötzlich der Geheimdienst bei ihr auftauchte und sie zur Bespitzelung der Leute zwingen wollte. Dass sie sich weigerte, rächte sich mit fatalen Konsequenzen. Kein Schreibtisch, keine Freunde, weil das Gerücht gestreut wurde, sie sei eine Spionin. Bis zu ihrer Kündigung saß sie während der Arbeit in der Fabrik auf der Treppe. Man drang heimlich in ihre Wohnung ein und schnitt Stücke von einem Fuchsfell ab, um ein Zeichen zu setzen. Mit Angst, Einsamkeit und Isolation sollte sie zermürbt werden. „Das Schreiben hatte“, wie sie in ihrer Nobelpreisrede erklärt, „im Schweigen begonnen, dort auf der Fabriktreppe, wo [sie] mit [sich] selbst mehr ausmachen mußte, als man sagen konnte.“ Aber auch während ihrer Aushilfsjobs in der Schule musste sie feststellen, dass man eigentlich dem Staat gehörte. Erst 1987 konnte sie in den Westen ausreisen.

Erfahrene Diktatur als Warnung

Noch heute bekräftigt sie, wie etwa gegenüber dem Standard, dass sie die in ihrer Heimat erfahrene Diktatur jedenfalls als eine Warnung mitgenommen habe: „Man darf sich nicht arrangieren. Man darf nichts auf Kosten anderer Leute machen. […] Besser ist es, von Anfang an darauf [zu] achten, dass man sich nicht schuldig macht, als später auszusteigen.“

Gerade auch angesichts der aktuellen Kriegssituation verspüre sie ein Gefühl der Ohnmacht. Ihre Mutter wurde 1945 in ein in der Ukraine gelegenes Lager gebracht, während ihr Vater sich schon als Jugendlicher von den Nazis hat vereinnahmen lassen und im Zweiten Weltkrieg auf der Seite der SS gekämpft hat. In ihren Texten hat sie über diesen Schmerz geschrieben. „Die Vergangenheit geht nicht weg. Sie hing im Leben meiner Familie wie ein verschwommener Mond“, schreibt sie in der „Rede zur Verleihung des Preises für Toleranz und Menschenrechte“. In ihrem berühmten Roman „Atemschaukel“ beschäftigt sich Müller mit der Internierung von Zwangs­arbeitern, für die sie gemeinsam mit dem Lyriker Oskar Pastior in der Ukraine recherchiert hat.

Anlässlich ihres 70. Geburtstages hat der Hanser Verlag nach ihren jüngsten Collage-Arbeiten einen schmalen Sammelband he­rausgebracht. Es handelt sich überwiegend um Reden, verstreute Publikationen oder sonstige Texte. Dass sie gelegentlich ähnliche Themen oder Erlebnisse zur Sprache bringt, zeigt nur, wie ernst es Herta Müller mit Werten wie Würde, Freiheit und dem Menschsein ist, vor allem dann, wenn andere „bestimmen, wer“ man ist. Denn wenn die Gesellschaft „kein ethisches Fundament“ mehr hat, hat sie „ihren Kompass endgültig verloren“. In den Reden analysiert sie die Mechanismen der Diktatur. Erst der Staatsfeind wird zum Individuum, während „das Kollektiv eine erschreckende Gleichheit“ repräsentiert.

Gegen Geschichtsverdrehung

Im Text „Unsichtbares Gepäck“ kritisiert sie den ausgehöhlten Begriff der menschlichen Würde nach 1945. Eng damit verbunden sei die Wahrheit, die man bei der Vergangenheitsbewältigung nicht erkennen wollte. „Geschichtsverdrehung“ und Leugnen waren gängige Verhaltensmuster. In Osteuropa war die Situation in Bezug auf das Bewusstsein der Mitschuld sehr ähnlich. Außerdem „hat sich die Diktatur nicht 1945, sondern erst 1989 verabschiedet“. Wie soll man aber leben, um nicht „in alte Muster“ zurückzufallen: „Ich könnte auch sagen, wie behält man seine Würde.“

Besondere Aktualität hat die Rede, die sie im November 2015 bei der Verleihung des Heinrich-­Böll-Preises gehalten hat. Darin geht es um das „Heimweh nach Zukunft“, das in der Flucht kulminiert. Müller blickt zurück auf das alte Osteuropa und veranschaulicht minutiös den kollektiven Wunsch, die Heimat zu verlassen, um irgendwo ein besseres Leben anzufangen. Sind die Grenzen geschlossen, bedeutet Flucht eine immense Gefahr. Sie reißt nicht nur Familien auseinander, sondern trägt auch ein „todes­offenes“ Ende in sich. Besonders eindringlich ist die Schilderung der einst hypnotischen Stimmung im Zug von Temeswar nach Bukarest. Während der Fahrt standen die Menschen plötzlich unvermittelt auf und warfen schweigend einen Blick nach Jugoslawien. Dann war alles wieder wie vorher, „als hätte es die Unterbrechung durchs Glitzern der Donau nicht gegeben“. Obwohl „Zukunft […] wie Zuflucht klingt“, sollte man sich von diesen Assoziationen nicht täuschen lassen. Es sei auch für die osteuropäischen Länder hoch an der Zeit, anzuerkennen, dass das Thema Flucht eng mit ihrer eigenen Geschichte verbunden ist. In der eindrucksvollen Rede „Herzwort oder Kopfwort“ leuchtet Müller die finsteren Winkel des Exils auf den Spuren zahlreicher vor den Nazis geflohener und schließlich emigrierter Schriftsteller aus. Geblieben ist eine traurige Bilanz, aber „die Toten des Exils hat niemand gezählt“.

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