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Die unerhörte W endekraf t eines fixen Datums

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Das unbestimmte Vorwissen von der Würde des Menschen und dessen Rechten füllt sich mit handfester Substanz. Dann geschieht jählings das Entscheidende: Kai ho logos sárx egéneto (Jo 1, 14). Der Logps, (fén 'Sfé Griechen äls Idee schauen, 1st in Christus Fleisch geworden. Gott kommt in die Welt, wird Fleisch, nimmt die Gestalt des Menschen an, des Menschen, so wie er leibt, lebt, liebt, friert, hungert, dür- stert, zittert, Blut schwitzt, verzagt; so wie er versucht wird und für einen Lidschlag irre wird an dieser Welt, in der er wohnt. Der Schatz von der Würde des Menschen wird auf die denkbar dichteste, griffigste und zugleich höchste Weise von Rechts wegen beglaubigt: Deshalb ist Gott Mensch geworden, damit die Dignität des Menschen durch den Er- iösungsakt der Majestät Gottes nicht die geringste Freiheitsminderung erleidet; im Gegenteil, sie wird auf eine wunderbarere Weise wiederhergestellt, bei Beobachtung der Ordnung des Rechts, das die Menschenrechte gibt und schützt (Anselm von Canterbury, Cur Deus homo?). Es geschieht keine Vereinigung, die Differenzen einebnet, das Personhafte drosselt; es geschieht vielmehr eine Vereinigung, die das Personsein im Differenzieren steigert und zumal vertieft. Auch Gott existiert, indem er sich in einem fort dreifältig vereinigt: drei Personen — ein Gott. Das Göttliche enthüllt seine personale Fundamentalstruktur.

„Deus, qui humanae substantiae dignitatem miraibiliter condidisti et mirabilius reformasti...“, will sagen: „Gott, der Du die Würde des Menschen wunderbar gestiftet und wunderbarer erneuert hast...“ Einen schöneren, einfacheren, schlichteren Satz über die Würde des Menschen kennt das Menschengeschlecht nicht Er stammt aus der ältesten Gebetssammlung der West- fcirche (sacramentarium Leonianum), woher er zunächst in die Weih- nachtsoratlo geholt wind, um als fester Bestandteil in den Text des Meßopfers einzugehen.

Die stille, unsichtbare Christianisierung

Wenn wir die Satzung der Vereinten Nationen zur Hand nehmen, wird es uns wie Schuppen von den Augen fallen: Wir werden den Satz von der wunderbaren Gründung der Menschenwürde und der wunderbaren Erneuerung wieder und wieder erkennen. Ohne den Namen Gottes zu nennen, ohne bewußt die christliche Lehre aufgenommen zu haben, betet das ganze Menschengeschlecht, wenn es seine Würde und Rechte beschwört, ein uraltes christliches Gebet! Die Wunder unserer Tage sind von einer anderen Art als die Wunder versunkener Zeiten. Mit dem Fleisch gewordenen Gott ist der Tatbestand der Gleichheit schlechterdings aller Menschen über alle Schranken hinweg gesetzt, ist der Tatbestand der Brüderlichkeit aller Menschen offenkundig für jedermann geworden. Beim Briten Christopher Morris („Western Political Thought“ I, London: Longmans 1967) kann man nachlesen, daß das Christentum die erste befriedigende Erklärung dafür gibt, warum das Individuum, warum jedes Individuum so wichtig ist. Keine Klassen, keine Stände, keine Rangstufen, keine Rassen, keine nationalen Schranken, keine Religionen, keine Konfessionen, keine Weltanschauungen, keine Unterschiede zwischen Freien und Sklaven können seit dem fixen Datum der Weltgeschichte diesen von Gott leibhaftig gesetzten Tatbestand in Frage stellen, jede wie immer geartete Grenze, die Menschen trennt, Menschen, die in Liebe zusammengehören, wo immer sie stehen — also jede wie immer geartete Grenze, die Menschen auseinanderreißt, ist seit diesem fixen Datum von Rechts wegen nichtig, wenn auch die Nichtigkeit ungezählter Diskriminierungen, die Rechtlosigkeit ungezählter Privilegierungen erst nach und nach von unserem Bewußtsein Besitz ergreift: Er ist in die Welt gekommen, und die Welt hat Ihn — zunächst — nicht erkannt. Jede Erkenntnis braucht Weile; längere Weile braucht das Reifen der Frucht, die der Erkenntnis entspringt. Die Erklärung über die Religionsfreiheit des Vaticanums II vom 7. Dezember 1965 hebt mit dem Satz an: „Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer Zeit von Tag zu Tag mehr zu Bewußtsein...“ (dignitatis humanae personae homines hac nostra aetate magis in dies conscii fiunt...cf. Johannes XXIIL, Litt Enc. Pac n in temis; Pius XII., Nunt. radioph. 24. dec. 1944).

Jetzt steht das Fundament, worauf die Würde des Menschen und des Menschen Rechte bauen, worin sie, Pfahlwurzeln gleich, gründen.

Das Christentum vollzieht einen zweiten gewaltigen Durchbruch zum innersten Bezirk der Menschenrechte, genauer: vollzieht eine gewaltige Heilung der bislang als gebrochen erfahrenen Wirklichkeit. Die Kluft zwischen Welt und Unweit, Tat und Untat, Mensch und Unmensch schließt sich; fortan sollten keine unsühnbaren Verbrechen mehr denkbar sein, wodurch ein Wesen, mag es sämtliche Erscheinungsbedingungen der menschlichen Gattung erfüllen, die Menschlichkeit, das Menschsein verwirkt. Die Menschenwürde kann einfach nicht verloren gehen!

Das Unerhörte der neuen Situation tritt erst hervor, so man das

Weltverständnis erwägt, das bis zur Ankunft des Christentums den Lauf der Dinge bestimmt: ___

Die Welt ist jener Teil der Wirklichkeit, der geordnet ist: Welt ist Ordnungswelt. Alles, was außerhalb der Ordnungswelt liegt, ist Schein, Scheinwelt = UN-WELT (akosmia). Mensch und Welt gehören zusammen. Mensch sein kann man nur in der Ordnung. So verträgt sich Welt nur mit Menschen, nicht mit UNMENSCHEN. Wer nicht in der Ordnung lebt, ist „der Ganz andere“, ein „UN-MENSCH“, ein Scheinwesen,

ein Unhold, ein Un-Seiender, ein Nichts. (So namentlich noch Sophokles Antigone 332 ff., insb. 370: a-polis; vgl. Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, S. 112 ff., insb. S. 116 f. Aristoteles schwächt schon die Konsequenz ab und nennt das Wesen, das nicht in der Polis lebt, einen Gott oder ein Tier; anderseits nimmt er offenbar an, daß solche Wesen wohl in einer Ordnung, also in der Welt, wenngleich nicht in der Polls, leben.) Wer nicht in der Ordnungswelt lebt, ist ein UNGEHEUER — kein Ordnungsgenosse, kein Rechtsgenosse, kein Mensch. So hat die Wirklichkeit als das Reich der Erfahrung die Struktur eines unversöhnlichen Vorstellungspaares: Welt — Unwelt / Ordnung — Schein (irreduzibler Dualismus!). Ob einer ein Mensch ist oder ein Unmensch, ein Nichts, das hängt mithin von seiner Zugehörigkeit zur Ordnungswelt ab.

Die Griechen und die Römer setzen zur Überwindung der Schizophrenie an — man denke an den praetor peregrinus, aber erst das Christentum heilt die ganze Wirklichkeit; denn die ganze Wirklichkeit ist von Gott erschaffen und erlöst, wiederhergestellt, und zwar wunderbarer als zuvor (mirabiliter — mirabilius!). Niemand kann von Anfang an ausgeschlossen sein vom Menschengeschlecht — und es kann keine unsühnbare Verbrechen geben. Dennoch wirkt der Gedanke an den Menschen, der sein Menschsein einbüßt; selbst beim heiligen Thomas von Aquin nach: decidit a dignitate humana... et incidit quodammodo in servitutem bestiarum. Die Sklaverei, die Todesstrafe, die Inquisition Widerstreiten dem System der einen, heilen Welt. Bis die Erkenntnis sich Bahn bricht, braucht es seine Zeit

Die Wirkkraft des Institutionellen

Wie sich die Gemeinden auf Geheiß der Apostel zu Kirchen konstituieren und sich in Rom zur Einheit der Weltkirche versammeln, nimmt die Stiftung des Herrn sichtbare Gestalt an, die im politischen Raum nach und nach Eigengewicht erwirbt Die Kirche setzt der Gewalt des Staates Grenzen: Zum erstenmal in der Geschichte tritt eine eigenständige Macht auf und weist die Macht des Staates, wo sie über die Ufer sich ergießt, in die Schranken. Bis zu diesem Augenblick war der Mensch mit dem Staat allein gewesen, in ihm mit Haut und Haar, Leib und Seele aufgegangen. Jetzt, sozusagen über Nacht, wird die Lehre von der Doppelbürgerschaft handfeste Wirklichkeit: der Mensch ist Bürger seines Staates, zugleich ist er Bürger seiner Kirche als der sichtbaren, greifbaren Institution, die das Reich Gottes, das Weltall, hier und jetzt auf Erden repräsentiert. Die Kon- stantinische Wende, die schon Dante Alighieri schilt, hat auch ihre gute Seiten: sie leiht der Idee der Menschenrechte politische Realität. Die Rede davon, daß der Mensch den Staat überragt, über ihn hinausragt in den Kosmos als Weltbürger, mit einem für den Staat unzugänglichen Kern, hört jetzt auf, eine Rede, eine Theorie, eine Hypothese zu sein, und erwirbt klirrende Realität. Die Differenz, um die der Mensch den Staat überragt, welche Differenz aber sichtbar ist, weil von der Kirche unter wirksamen Schutz, bis zum offenen Widerstand, genommen wird, diese Differenz ist der Stoff, woraus die Menschenrechte der Neuen Welt von Amerika und die Menschen- und Bürgerrechte der Französischen Revolution gezimmert werden.

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