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Ein junges Europa

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Auf Einladung des Oesterreichischen College und des Instituts für Gegenwartskunde weilte in diesen Tagen Eugen K o g o n einige Tage in Wien. Er sprach hier im Konzerthaus über „Geist und Gesellschaft der Gegenwart“ und debattierte dann mit einem guten Dutzend Professoren, Politikern, Publizisten und Schriftstellern unter reger Anteilnahme eines aufgeschlossenen und kritischen Publikums im Vortragssaal der Wiener Nationalbibliothek über die Stellung Deutschlands und Oesterreichs in Europa heute.

Der Mann, die Vorträge und das Publikum gaben reichlich Anlaß, die innerösterreichische Situation vor 20 Jahren und heute zu vergleichen. Der Kritiker will da bemerken: es hat sich nicht viel geändert seit damals. Eine im Grunde sehr provinzielle Enge, ein Provinzialismus, verbrämt durch i omantische Phrasen, ein Gerede vom Abendland und anderen schönen Dingen — also alles das, was damals jene Engpaßlage schuf, die nicht wenige in den Nazismus und Linksextremismus hineinscheitern ließ —, ist es heute besser geworden? Reden wir Oester-reicher nicht immer noch gerne von wenig scharf akzentuierten Phänomenen und verbergen hinter großen Worten eine kalte, mattherzige Verwehrung gegen jede echte Kühnheit im Denken, Handeln, konstruktive^ Planen (so daß dieses als Reservat einer kleinen Gruppe angegriffener Künstler vorbehalten bleibt)? Manches, was da in der Debatte gesagt und was über den Vortragenden geschrieben wurde, ließe so denken. Und doch: wieviel hat sich doch geändert seit damals. Es ist nicht zu leugnen: es weht zwar .noch kein frischer Wind durch Oesterreich, die Abgestandenheit unserer kulturellen und geistigen Verhältnisse läßt sich gewiß nicht durch allzu notorische Hinweise auf den fehlenden Staatsvertrag entschuldigen, dennoch konnte jeder, der es sehen wollte, bei diesen Veranstaltungen beobachten: es gibt Alte und Junge, Menschen aus sehr verschiedenen politischen und weltanschaulichen Bekenntnissen, die sich heute auch in Oesterreich zusammenfinden, um in eine offene Welt auszubrechen: in eine Welt, die nicht mit den Schlagworten und Fallen von gestern zugrunde gehen, die sich nicht gefangen geben will mit den falschen Alternativen, Ideologien und Manövern, die uns alle wieder in eine ausweglose Lage verstricken wollen, aus der angeblich nur Krieg oder Bürgerkrieg, zumindest konfessionelle Zwistigkeit und Streiterei bis aufs Letzte „befreien“ können. Alle Probleme i n Europa, in der „arbeitsteiligen Großgesellschaft“ mit ihren vielfältigen Interdepen-denzen und Abhängigkeiten, sind zu schwer, zu komplex, um durch e i n Machtwort, eine Partei, überhaupt irgendeinen Partikularismus „gelöst“ werden zu können. Das war der gute Sinn der inneren Verbindung dieser beiden öffentlichen Veranstaltungen um Eugen Kogon.

Seine Kritik an unseren politischen Ideologien, also an den falschen Begriffen „Kapitalismus“, „Sozialismus“ usw., an der noch mangelnden Begegnung der Kirchen mit dem welthaften Intellekt und seinem legitimen Streben, das Irdische in den Griff zu bekommen, seine Schilderung des mit einem allzu geringen gesellschaftlichen und politischen Grundgewissen ausgestatteten Spezialisten hatte ja nicht den Zweck, das Bonmot von uns „hochrationalisierten Idioten“ zu prägen oder einfach eine jener sattsam bekannten pessimistischen Situationsbilder zu malen, sondern zielte auf sehr Gegenständliches: auf eine Einladung an Oesterreich, sich mehr als bisher zu beteiligen an den Arbeiten für Europa. Der gelernte Oesterreicher war denn nun freilich auch gleich mit der Gegenfrage, zur Hand: wie denn das heute möglich sei, bei unseren beschränkten Verhältnissen usw. Kogon hatte nämlich, unter anderem, darauf verwiesen, wie wichtig es gewesen wäre, wenn schon früher Oesterreicher an den harten und schweren Kämpfen in Straßburg, Paris, Brüssel usw. um einen Ausgleich der vielen Gegensätze teilgenommen hätten und ihre reichen Erfahrungen im Verhandeln und Vermitteln präsent gewesen wären. Er konnte uns nun freilich kein Rezept geben, wie wir uns in Hinkunft mehr einschalten könnten, vielleicht ist er selbst jedoch das eindrucksvollste Beispiel, was aus einem Oesterreicher werden kann, wenn er aus unserem Getto in die Welt hinaustritt. Kogon wurde sein Weg vom Redakteur der „Schöneren Zukunft“ in Wien zum Präsidenten der deutschen Europa-Union und des Bundes europäischer Föderalisten, zum vielbeachteten Soziologen, zum Publizisten und Herausgeber der „Frankfurter Hefte“, also der Weg in Europa hinein, durch — Hitler geöffnet, der ihn, mit vielen anderen, von Wien weg nach — Dachau engagierte. Aus diesem Engagement wurde ein Engagement für Deutschland und Europa. Die scharfen Analysen des „SS-Staates“, bis heute eine der besten Schilderungen eines totalitären Systems und seines Funktionierens, die klaren Perspektiven in seinem Leitaufsatz Jänner 1953 in den „Frankfurter Heften“ (ein Aufsatz, den jeder lesen muß, dem es ernst ist mit seiner Arbeit an sich selbst und in der heutigen Welt), sie zeigen doch, daß

der geistige Arbeiter und jeder wache Mensch noch eine Chance hat, sich vorzukämpfen in einen Raum, in dem er selbst Mitentscheidung fällen kann. Die Misere unserer Scheindemokratie, die Mutlosigkeit unserer Kulturschaffenden rührt ja nur von daher: es scheint sich kein Weg zwischen den Bürokratien, Mechanismen, Konzernen der Macht und den Managern zu zeigen, der zu wirklich personhafter Mitgestaltung und Mitverantwortung unserer „Verhältnisse“ vorführt.

iKogon, von vielen Uebelwollenden als „Reiseeuropäer“ glossiert, bekennt sich zu einem politischen Humanismus und, wie wir im guten Sinn sagen wollen, aufgeklärten Christentum, das mit Erasmus an die ewiggültige Verpflichtung des klugen, wachen Intellekts und des vertrauenden Herzens glaubt, als dritte Kraft zwischen sehr verschiedenen Menschen und Kräften zu vermitteln. Darf ein Oesterreicher hier es sich erlauben, dieses Anliegen abzuweisen? Wir glauben es nicht, und wünschen, mit vielen, daß Wien öfter Gelegenheit bekommt, mit Europäern, mit „offenen“ Menschen Bekanntschaft und Aussprache zu finden.

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