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„100 Tage Breslau“

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Nach einem mühseligen Ringen um eine neue Existenz ist in diesem Sommer die schlesische Stadt Breslau mit einer Veranstaltung hervorgetreten, die nicht alltäglich ist. Unter der Devise „100 Tage Breslau" zeigt sie gegenwärtig eine Ausstellung über die neugewonnenen Gebiete in Ostdeutschland und rührt damit an eine Frage von hochpolitischer Bedeutung. Nach der Einwanderung der Westslawen in den den Deutschen abgenommenen Siedlungsraum sind sowohl die Polen wie auch die Tschechen in eine gemeinsame Verteidigungslinie eirigeschwenkt, um ihren von der Potsdamer Deklaration abgeleiteten und völkerrechtlich noch umstrittenen Anspruch auf diese Gebiete moralisch wie materiell zu begründen. Deshalb ist auch in Breslau von den polnischen Veranstaltern alles aufgeboten worden, um nicht nur den eigenen Landsleuten, sondern auch den ausländischen Besuchern jenen Eindruck zu bieten, an dem Warschau gelegen ist.

Der polnische Charakter Ostdeutschlands, also die Wiederbesiedlung nach der Vertreibung von 8,6 Millionen Deutschen durch bisher 5,2 Millionen Polen und die wirtschaftliche Aktivierung des Landes ist daher das eigentliche Thema der Ausstellung. Mit der Kunst der Statistik wird in Breslau mit Zahlen belegt und nachgewiesen, daß Ostdeutschland hinter der Oder und Neiße für die Deutschen nur eine periphere, für Polen jedoch zentrale Bedeutung besitzt, nachdem es im Osten an die Sowjetunion ein weit größeres Territorium abtreten mußte. Eine plastische Landkarte im „Gelände der polnischen Probleme" sagt allerdings nichts davon aus,‘daß in der heutigen Republik "Sicht mehr 35, sondern nur mehr 24 Millionen Menschen leben, nachdem sie durch Kriegsopfer und die verlorenen weißrussischen und ukrainischen Minderheiten 11 Millionen ven. loren hat. Dieses Kapitel der polnischen Staatsgeschichte wird nicht einmal flüchtig gestreift. Seine Erörterung war schon im Polen Pilsudskis nicht beliebt. Diesmal ist es die polnische Gegenregierung in London, die das territoriale Kompensationsgeschäft mit Moskau ablehnt. Die Musterbeispiele der „Sozialistischen Wirtschaft“ mit ihrer eindrucksvollen Schau der ökonomischen Kapazität des einst reichen Ostdeutschland halten mit Genugtuung die Tragödie der früheren Eigentümer dieses Siedlungslandes fest. So liest man aus den graphischen Darstellungen, daß die ostdeutsche Textilindustrie 1945 noch 93 Prozent deutsche Arbeiter, 1948 aber nur mehr 1,5 Prozent beschäftigte.

Im Gelände C meldet sich Breslau selbst zu Wort. Es bezeichnet sich stolz als Hauptstadt dieser Provinz zwischen Baltikum und Riesengebirge, so daß Stettin nur eines der Stadttore wäre, wenn auch die Rivalität nicht unsichtbar gemacht werden kann. Breslau darf jedoch als seinen Vorteil den Besitz des größten Oderhafens, die Nähe des Industriegebietes, die Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt und die Intensität seines geistigen Lebens budien, zumal sich hier die Lemberger Universität mit 10.000 Studenten niedergelassen hat. Als schwer zerstörte Stadt hat Breslau nicht minder schwer gelitten wie Warschau, und die phrasenlose Mitteilung des Stadtpräsidenten Kupczynski, die Straßen wären nun im wesentlichen schuttfrei, die 15. Trambahnlinie sei wieder in Betrieb genommen, die Einwohnerzahl liege mit 280.000 nur noch 50.000 unter dem Vorkriegsstand, ist ein kaum anfechtbarer Beleg wirklicher Anstrengung. Wie zur Illustrierung dieses Berichtes führen zur gleichen Zeit die altansässigen und mit den Neusiedlern unzufriedenen Bewohner in einer Enquete Beschwerde, daß die aus der deutschen Zeit gewohnte Pünktlichkeit von den neuen Behörden mißachtet werde, daß ein Teil der Gesellschaftskreise „kein Verstand-

nis für die seit je hier wohnenden Autochthonen (Polen)“ aufbringen, ja daß letztere oft nur mangelnde Kenntnisse der polnischen Sprache besäßen. Denn die Bevölkerung der neugewonnenen Gebiete ist noch keine soziologische Einheit, sie ist durch tiefe Unterschiede der Herkunft zerrissen, die Rückwanderung aus dem Westen, vor allem aus Westfalen, separiert sich von den östlichen Neusiedlern.

Die Mittel zur Erreichung dieser Einheit sind primitiv. Wer Polen vor dem Kriege kannte, weiß die Praxis des Polnischen Westverbandes zu beurteilen, der seinerzeit schon einem Joseph Pilsudski das Leben sauer gemacht hat. Der Polnische Westverband gilt als Initiator der Breslauer

Ausstellung und in seinem Auftrag hat der Breslauer Universitätsprofessor Dr. Stanislaw Raspond in der Sonderschau „Geschichte der polnischen Sprache in Schlesien“ alle erreichbaren Dokumente gesammelt, die den einst rein polnischen Charakter Ostdeutschlands zu beweisen haben. Der Piastenadler am Rathaus, polnisch geschriebene Meisterbriefe schlesischer Zünfte, Gebetbücher vergangener Jahrhunderte, ein kirchliches Pergament in polnischer Sprache aus Stettin und die übrigen 300 Gegenstände dieser Abteilung erinnern allzusehr daran, daß man mit einem Versuch der Selbsttäuschung einen bedrückenden Komplex loswerden will, im Grunde wohl bewußt, daß der heutige Stand am allerwenigsten hier nicht historischen Erscheinungen, sondern der weltpolitischen Machtverteilung zu verdanken. Nirgends liest oder hört man ein versöhnliches Wort, obwohl fast atemlos auf die versöhnliche Geste des Gegners gewartet wird. Eine deutsche kommunistische Delegation, die unter Führung Bertold Brechts zum „Weltfriedenskongreß der Intellektuellen“ nach Breslau kam, wurde enthusiastisch gefeiert, doch bewegten sich die Deutschen sehr vorsichtig und sprachen wenig.

Die „100 Tage Breslau“ mit einem international dimensionierten Rahmen der Ausstellung blieben leider in dem provinziellen Niveau eines kleinbürgerlichen Nationalismus stecken. Jetzt erst stellt sich heraus, wie sehr die nationale Mentalität der Westslawen jener, bestimmter deutscher nationalistischen Kreise von ehedem verhaftet ist.

Nicht nur organisatorisch, auch geistig ist man ein Spiegelbild des Gegners. Obwohl der Jahrestag der Niederlage des Deutschen Ritterordens bei Grunwald (Tannenberg) 1410 nicht mit der Eröffnung der Breslauer Ausstellung zusammenfiel, wurde Grunwald gewissermaßen zur Parole. Es genügte nicht, daß es jetzt in Breslau einen Platz, eine Allee, eine Brücke mit diesem Namen gibt, man schuf noch zusätzlich eine Spezialzigarette „Grunwald“ und zeigt in der Siegeshalle auch ein Grunwaldschwert. Der Zapfenstreich (Capstrzyk), mit dem die hunderttägige Breslauer Ausstellung eröffnet wurde, spielte sich auf dem Grunwaldplatz ab. Vom Rathaus bliesen Fanfaren den altpolnischen Choral „Hejnal“ und man beging gleichzeitig die Erinnerung an die Proklamation des „Volksmanifestes“ des Befreiungskomitees vom 22. Juli 1944, das die kommunistische Ära in Polen einleitete. Während eine hitzige Pressepolemik zwischen Marxisten und dem katholischen Pfarrer Pisarski im Gange ist, weil dieser unter Hinweis auf Karl Marx den Materialismus eine deutsche Theorie nannte, wird durch Verzeichnung der Tatsachen die Feindschaft gegenüber den Deutschen in eine generelle Feindschaft gegen Westeuropa, gegen das Abendländische, umgemünzt.

Im Industriepark der Breslauer Ausstellung steht ein Apfelbaum aus Kunststoff, der aus einem Kohlenflöz wächst und goldene Früchte trägt. Es ist nicht echtes Gold, das auf diesen Äpfeln glänzt.

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