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Polen: Schlüssel zu Europa

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Es bedarf kaum eines langwierigen Beweises, daß Polen in vieler Hinsicht ein „Schlüssel zu Europa“, „Key to Europe“, ist, wie es der Brite Raymond Leslie Buell im Titel seines am Vorabend des zweiten Weltkrieges erschienenen Buches aussagt, der bis .beute ^seine. Gültigkeit nicht eingebüßt hat. Dennoch hat es dem westlichen und dem mitteleuropäischen Leser, er sei aus rein wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen oder kulturellen Ursachen an einer zugleich übersichtliche^ und genügenden Zusammenfassung der polnischen Tatsachen interessiert, an einem geeigneten Werk bis vor kurzem gefehlt. Bücher in slawischen Sprachen sind dem Deutschen, dem Angelsachsen, dem Romanen in der Regel unzugänglich. Handbücher aus der Zeit des ersten Weltkrieges, wie das deutsch 1918 in Bern erschienene anonyme Sammelwerk zentralmächtefreundlicher und die als deren Gegenstück in Fribourg-Lausanne 1916 bis 1921 veröffentlichte vierbändige Encyclopedie Polonaise sind völlig veraltet. Erstmals hat eine von polnischen Exilgelehrten, unter Leitung des hervorragenden Historikers Oskar Halecki, dargebotene Gesamtschau — „Poland“, New York 1957 — einen wertvollen, ebenfalls durch seine, heftig antikommunistische Färbung geprägte Einführung in die heutige polnische Wirklichkeit und in deren Voraussetzungen beschert. Nun liegt aber eine Leistung vor, die bisher, auch in Polen selbst, unübertroffen ist und die, obzwar auch sie — was bei einem an viele brennende Wunden rührenden Thema unvermeidbar ist — sehr deutliche Spuren politischer und nationaler Zugehörigkeit einiger Mitautoren zeigt und obwohl eine Anzahl Vorbehalte anzumelden sind, hohen Beifall und Anerkennung verdient.

Beides gilt sowohl der Absicht des Herausgebers, seinen deutschen Landsleuten ein zutreffendes Bild einer ihnen fremden und nur verzerrt, gar fragmentarisch abkonterfeiten Nation zu liefern, als auch den ruhigen, sachkundigen und abgewogenen Ansichten der meisten seiner Mitarbeiter. Überzeugtes Lob ist ferner der Gründlichkeit und der vorzüglichen Stoffauswahl zu zollen, die an fast allen Kapiteln zu rühmen sind. Die technische Seite des Handbuchs ist wohlgeraten. Eine umfängliche Bibliographie weist nur wenige belangreiche Lücken auf (die, auch nur beispielsweise, zu ergänzen, hier der Raum fehlt). Zierden des Handbuches sind: eine sorgsam ausgewählte Zeittafel der Polen betreffenden Ereignisse vorr 1916 bis Jahresende 1957: eine in ihrer Art einzige vollständige Liste der Mitglieder polnischer Regierungen seit dem ersten Kabinett Kucharzewski (November 1917) bis zum gegenwärtigen Kabinett Cyrankiewicz' (Veränderungen bis 1957 nachgetragen) und ein Katalog der Angehörigen des faktisch herrschenden Politbüros der marxistischen Einheitspartei (PZPR). Sodann eine Chronologie der völkerrechtlichen Abkommen und zuletzt „Biographische Angaben“ über fast 200 führende Gestalten der Politik und des Geisteslebens.

Dieses kleine „Wer ist's““ enthält eine Menge nützlicher, im allgemeinen sehr zuverlässiger und oft sogar der breiteren polnischen Öffentlichkeit unbekannter Namen. Immerhin sollten wenigstens zu diesem Abschnitt ein paar Korrekturen angebracht und ein paar Fehlende genannt werden. Bei mehreren heute in Polen wirkenden Personen von Rang und Einfluß wäre es wichtig, auf ihre Abkunft hinzuweisen, so auf ihren Ursprung aus der Szlachta für die Sozialistenführer Daszyfiski, Niedzialkowski und den späteren Staatspräsidenten Moscicki, die streitbar kommunistischen Schriftsteller Broniewski und Putrament. Die Angabe, Pilsudski stamme aus „Kleinadelsfamilie“,;, ist falsch. Sein Geschlecht .gehörte .-zeitweilig zu .den-Mfipaten,- ein , Mutter ,^t: aus fürstlichem Stamm. Die heutigen Politbüromitglieder Cyrankiewicz (durch die Mutter), JedTy-chowski und Rapacki entstammen der Szlachta. lözef Becks Herkunft wäre genauer zu präzisieren: aus dem einst vorderösterreichischen Freiburg im Breisgau. An Einzelheiten zu den Biographien: Glabinski war schon im alten Österreich Minister. Rydz-Smigly: September 1939 nach Rumänien, dann über Ungarn heimlich zurückgekehrt, starb unter fremdem Namen unerkannt in einem Warschauer Spital; nach dem Tod agnosziert. Kardinal Sapieha: aus erlauchter Familie, trat unbci>~“am schon seit der österreichischen Zeit allen weltlichen Machthabern, so auch Pilsudski, gegenüber; ebenso den deutschen Okkupanten, nicht erst den Kommunisten nach 1948. Metropolit Graf Szeptycki: mütterlicherseits Urenkel des polnischen Moliere Grafen Aleksander Fredro. Nur ein Dutzend der abgedruckten biographischen Notizen scheint mir überflüssig. Mit Bedauern vermissen wir dagegen Namen wie Bilifiski u. a. Begreiflicherweise können, so wenig wie bei der Bibliographie, zu den nun kurz zu würdigenden einzelnen Kapiteln eingehendere kritische Betrachtungen vom Rezensenten vorgenommen werden. Er muß sich damit begnügen, die hervorragendsten Leistungen herauszuheben.

Besonders wohlgelungen sind die Darstellungen der Wirtschaft, sodann die beiden meisterhaften Zusammenfassungen über die Musik und über die Wissenschaft. Sehr gut. ob auch knapp, die Ausführungen über den polnischen Katholizismus. Hervorragend das wohlabgewogene Kapitel über die politische Entwicklung Polens bis 1945; sehr gut die Beiträge über Polen unter Sowjetoberhoheit, über Polen im 1. Weltkrieg und zuvor, über polnische Führerschicht.

Die sehr günstige Meinung über Markerts Sammelwerk, das weitaus beste, das wir derzeit über das heutige Polen besitzen, wird. durch Einwendungen gegen einige — einer Minderheit — seiner Kapitel nicht beeinträchtigt. Es verdient die gute Aufnahme, die es bei allen berufenen Urteilern gefunden hat, nicht zuletzt in Polen, wo man ja mancherlei grundsätzliche Vorbehalte zu machen und eingewurzelte oder anbefohlene Vorurteile zu überwinden hat. So haben die führende Exilzeitschrift ..Kultura“ und die „Cahiers Pologne-Allemagne“ lobende Rezensionen veröffentlicht. Ich fasse meinerseits das Urteil über dieses vortreffliche Handbuch dahin zuramnrm, daß es, nicht zuletzt dem Kundigen, umfängliche Belehrung und Bereicherung bietet und daß es ein Zeugnis aufrichtigen Strebens nach wissenschaftlicher Objektivität verkörpert Es cehört in die Hände eines jeden, der über Polen Aufschluß sucht. Und das. tollten alle sein, die sich irgendwie mit dem politischen Geschehen, mit dem Geistesleben und mit der Wirtschaft unserer europäischen Gegenwart beschäftigen.

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