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Der neue Herder-Atlas

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Wieder einmal kann man den Verlag Herder zu einer großen Leistung beglückwünschen, die als Frucht langer und wohlgeleiteter Teamarbeit ein schätzbares Handbuch gezeitigt hat. Der neue Atlas ergänzt das neunbändige, durch ein enzyklopädisches Bildungsbuch abgeschlossene alphabetische Konversationslexikon, das als „Der Große Herder“ einen begründeten Ruf genießt. Er verdient zunächst wegen der vorzüglichen Ausführung, der im allgemeinen guten Auswahl und des reichen Inhalts seiner Landkarten Beifall. Es ist ein Vergnügen, diese zu betrachten und dank ihrer Klarheit aus ihnen eine Belehrung zu schöpfen, deren Vielfalt nur der Fachkundige ganz zu würdigen weiß. Nicht geringeres Lob gebührt der Länderkunde, die sich an den eigentlichen kartographischen Teil anreiht. Ihm gehen vorzügliche Photographien voran, die dam Beschauer eine Anzahl typischer Landschaften zeigen. Auf eine kurze Uebersicht über Sternenhimmel, Erdlufthülle, Meer und Erde folgen Gesamteharakteri-stiken der Erdteile. Dabei ist Amerika als Einheit dargestellt und nicht in zwei Kontinente zertrennt, wie heute zumeist in geographischen Werken; der fünfte Erdteil wird Australien und nicht Ozeanien benannt. Dann beginnt, in alphabetischer Ordnung, die vorzüglich bebilderte, statistisch untermauerte Schilderung der einzelnen Staaten. Hier können wir einen leichten Zweifel nicht unterdrücken. Wenn Andorra und Monako mit eigenen Artikeln bedacht werden, sollten die voneinander völlig unabhängigen arabischen Staaten nicht in einem Abschnitt zusammengefaßt sein. Es scheint mir auch fraglich, ob es sich empfiehlt, Gebiete, die vorläufig noch nicht unabhängig sind — oder die der allgemeinen Anerkennung ihrer Unabhängigkeit entbehren — als gesonderte Staatswesen zu behandeln, etwa Algerien und Grönland. Die Ausführungen über die Glieder der großen Menschheitsfamilie, von Afghanistan bis zu den Vereinigten Staaten (von Amerika), sind durchweg auf hohem, häufig auf sehr hohem Niveau; der sichtbar einheitlichen Richtlinien ungeachtet von. erquickender Mannigfaltigkeit, bei der die Individualität der Verfasser auf ihre Rechnung kommt. Eine gewisse Ungleiehmäßigkeit im zugemW.adSilum w.afcsWfK';FmFWlSr# Sfct-YSFrt: függn, tenAndorrajMonakov SanMarind..über je eine halbe J$eite, di .USA fiter achteinhalb. Idifi. UdSSR über siebeneinhalb Seiten. Was wir aber nicht recht begreifen, ist die Erwähnung unbeträchtlicher Nester (z. B. auf Island), während in Japan, den Vereinigten Staaten, in der Sowjetunion und China Halbmillionenstädte unverzeichnet bleiben. Wir hätten überhaupt gerne am Ende des Bandes, wo einige allgemeine Zusammenfassungen gegeben sind, eine über die bevölkertsten Städte der Welt, etwa ab 500.000 Einwohnern, vorgefunden. Sehr begrüßenswert sind die einläßlichen Darlegungen über Struktur, Klima, historisches Werden und vor allem, durchschnittlich am besten, über die Wirtschaft. Leider ist der Kulturstatistik zu geringe Aufmerk-keit gewidmet. Es wären systematisch Angaben über Zahl der Schulen und der Schüler, Analphabetentum, jährliche Bücherproduktion, Zeitungen, Kino erwünscht gewesen.

Ganz hervorragend ist begreiflicherweise der 57 Seiten starke Abschnitt über Deutschland und dessen Einzelländer. Freilich beklagen wir auch hier die Vernachlässigung des geistigen Sektors, die aber im Kartenteil gutgemacht wurde. Wir sind davon überzeugt, daß leidige Raumrücksichten den Herausgeber dazu bewogen haben, sich da eine ihm selbst zweifellos peinliche Beschränkung aufzuerlegen.

Es ist selbstverständlich unmöglich, jeden' der Länderartikel kritisch zu würdigen. Ich habe stichprobenweise die mir am meisten vertrauten Kapitel nachgeprüft und dabei an den Darstellungen Frankreichs — wo auch die Kulturstatistik gegeben wird —, Italiens, Oesterreichs und der Schweiz besondere Freude gehabt. (Oesterreich: warum sind dort die Einwohnerzahlen aus dem Jahre 1953 und nicht die im Oesterreichischen Jahrbuch 195 7 leicht zugänglichen von Ende 1956 zu lesen?) Eiheblich schlimmer steht es um Polen. Da sind offenbar die WiadomoSci Statystyczne und der Rocznik Staty-styczny nicht genügend beachtet. Unter den wichtigsten Städten fehlen unbegründet Chorzöw, Sosnowiec, Radom; die Zahlen von 1956 sind überholt. Auch der Text ist stellenweise anfechtbar. Es sieht traurig genug im Lande Gomulkas aus. Doch davon zu erzählen, das Land befinde sich „seit 1956 in einer durch Streiks, Aufstände (?!), Einfuhrbeschränkungen und Lebensmittelkäufe im Ausland gekennzeichneten Versorgungskrise“ ist des Bösen zuviel zur Zeichnung einer chronischen, durch Krieg, Okkupation und kommunistisches Regime erklärbaren Situation. Sodann gibt es in Polen nicht zwei, sondern fünf von der Wojwodschaftseinteilung ausgenommene Städte. Irreführend ist es, wenn nach veralteten Zahlen von 1955 77,6 Prozent des landwirtschaftlichen Bodens als einzelbäuerlich, 9,8 Prozent als kolchosisch und 12,6 als sowchosisch erscheinen. Als Folge des „Polnischen Oktober 1956 lauten die jetzigen Zahlen: 85.4 Prozent, 1,2 Prozeni und 12,3 Prozent. Namen sollten grundsätzlich ir der Amtssprache des Landes gegeben werden, dai über den betreffenden Ort, Fluß, Berg usw. die tatsächliche Gewalt ausübt. Außerdem wären, selbstverständlich und stets, die eingebürgerten deutscher Namen beizusetzen und, im Falle mehrerer offizielle: und historischer Namensformen — etwa in de: Sowjetunion — diese alle; so bei Lemberg nocl Lvtov.'tYiv, iwö#r1tö,?reßburg“Pc#s'cmäy ttntt -Btaft slaIm'?gike?'Iir$ ewenfg'SinnV'BÄmeitf denaftftrffiun dalutschtn.-SifiVerwfeittrfnSti beim deutschen auf den fremden.

Nun noch über die Auswahl der Karten. Sie ist was wir ebenfalls bereits bezeugt haben, fast durchaus zu loben. Doch scheint für die Sowjetunion unc für die Balkanhalbinsel mehr Raum angezeigt. Ali Lücke empfinden wir, neben den vorzüglichen An gaben über Fluglinien, Schiffahrtswege, Eisenbahnen das Fehlen einer Karte der Autostraßen.

Und ein Letztes Der Atlas ist offenbar für dei gesamten deutschsprachigen Raum bestimmt und e wird, verdientermaßen, auch in nichtdeutschen Län dern Verbreitung bekommen, die über kein so aus gezeichnetes modernstes Kartenwerk für die gebilde ten Nichtfachleute verfügen. Deshalb berührt e merkwürdig, daß zwar die Veränderungen, die de zweite Weltkrieg gebracht hat, beinahe überall regi striert werden, ohne den leisesten Vorbehalt, um auch dann, wenn kein formeller Friedensvertraj vorliegt, bzw. wenn die Anerkennung der Grenz Verschiebungen einzig durch kommunistische Regim erfolgt ist, daß hingegen in bezug auf die deutschen Ostgrenzen eine Ausnahme geschieht, deren Eindruck noch dadurch verstärkt wird, daß auch die vor 1939 zu Polen gehörenden, 1919 abgetretenen Gebiete östlich der Grenzen des wilhelminischen Reiches, eine Sonderbehandlung erfahren. Niemand wird von einem in Deutschland erscheinenden Kartenwerk verlangen, daß es eine von seiner Regierung und von der weitaus überwiegenden Bevölkerungsmehrheit abgelehnte, durch keinen völkerrechtlichen Frieden anerkannte Ostgrenze juridisch anerkenne. Es heißt aber den Kopf in den Sand stecken, wenn Ostpreußen, Schlesien als deutsche Länder dargestellt werden, mitsamt der alten Einteilung in Provinzen, Regierungsbezirke, ohne eine Spur der heute dort geltenden Ortsbezeichnungen. Der richtige Weg wäre gewesen, alte und neue Namen anzugeben und so ein Bild sowohl des jetzigen Zustandes als auch des deutschen Anspruchs zu bieten, nicht aber den nach Aufschluß Begehrenden, etwa in der Schweiz und Oesterreich, die Orientierung in einem ihnen fernen Gebiet zu erschweren oder gar unmöglich zu machen. Man folge dem weisen Beispiel der Eisenbahnkursbücher und der Postverzeichnisse. Damit wird weder nationaler Verrat, noch politischer Verzicht begangen. Und man befolge nicht das törichte Beispiel det chauvinistischen Postverwaltungen von vor 1938, die Briefe, nach Preßburg und Pozsony als unbestellbar ablehnten oder das der heutigen Propagandabroschüren, die auf Deutsch über die angeblichen Herrlichkeiten des Lebens in Gdansk und Wroclaw berichten.

Die Vorbehalte, die ich auch zu einem so gediegenen und wertbeständigen Handbuch anmelden mußte, betreffen entweder, an der Gesamtleistung gemessen, wenig beträchtliche Einzelheiten oder sie richten sich gegen zwei, drei Grundsätze, an denen im Hinblick auf derzeit unverrückbare Gegebenheiten nicht mit Erfolg anzukämpfen ist. Meine kritischen Anmerkungen hindern mich nicht, das Werk aufl wärmste zu empfehlen und es als hervorragende! Gelingen einer schwierigen Aufgabe zu rühmen.

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