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Eine englische Geschichte Polens

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Vor einiger Zeit erfuhr man, eine Gruppe sowjetischer Gelehrter sei im Begriff, eine neue „Geschichte Polens“ auszuarbeiten. Nach dem Erscheinen dieses Werkes werde es ins Polnische übersetzt werden und dann den Historikern des dargestellten Landes zum Muster dienen, wie sie die eigene nationale Vergangenheit zu betrachten hätten. In der Tat sind die vor dem zweiten Weltkrieg gehegten Pläne einer großen polnischen Geschichte in mehreren Bänden, nach dem Muster des französischen Sammelwerkes von Lavisse-Ramhaud oder der englischen Synthesen, die von den Universitäten Cambridge und Oxford geboten wurden, nicht zur Ausführung gelangt Nach dem Umbruch von 1944/45 ist es noch zu keiner neuen Gesamtarbeit von Belang gekommen. Die für einen weiten Kreis bestimmte, reich ülu-strierte dreibändige Schilderung der nationalen Entwicklung in Politik, Kultur, Kunst und Literatur, die unter dem Titel „Polska, jej dzieje“ zu Ende der zwanziger Jahre erschien, dann vortreffliche Universitätslehrbücher von Roman Grodecki, Stanislaw Zachorowski und Jan Dabrowski fürs Mittelalter, von Wladyslaw Konopczynski für die Neuzeit, dann ein Sammelwerk der Polnischen Akademie „Historia Polski“, das aber nur bis 1775 reichte, waren die wichtigsten Zusammenfassungen, die dem Polnischsprechenden zur Verfügung standen. In westlichen Idiomen besitzt man nur die knappe ausgezeichnete Einführung von Oskar Halecki, die englisch und französisch vorliegt, dann die wenig befriedigenden Bücher von Henri G r a p p i n (französisch) und Erdmann Hanisch (deutsch).

Was die einzelnen Kapitel des vorliegenden Buches betrifft, so ist ihr Niveau sehr voneinander verschieden. Neben den überragenden, die Professor Oskar Halecki, den berufensten Fachmann, zum Autor haben (die Zeit von 1333 bis 1434, Geistesleben der Renaissance), neben den ausgezeichneten des französischen Professors Abb£ David über die Kirche bis 1250 (IV), Professor Tymienieckis, Professor Fryderyk Papees, Professor Pociechas, Professor F. Nowaks, Professor W. Czaplinskis, Professor Tomkiewiczs über einzelne Perioden der Piasten, der Jagellonen und der Wasa, neben den wiederum glänzenden Kapiteln Professor Uminskis über die Gegenreformation, S. Komornickis und Professor Tatarkiewicze über die Kunstgeschichte, des verblichenen geistreichen Literaturhistorikers der Berliner Universität, Alexander Brückner, über die Barockkulrur, des gleichfalls schon verstorbenen Rechtshistorikers J. Siemienski über die Polnische Verfassung finden wir die ziemlich mißglückten Betträge angelsächsischer Autoren, so Goudys über Polens rassische Ursprünge, A. Bruce Boswells über Kultur und soziale Zustände im Mittelalter. Des letztgenannten Verfassers Abschnitt über das 12. und 13. Jahrhundert, dann — die Aufrichtigkeit gebietet uns, das bedauernd festzustellen — auch die Darstellung der ältesten Geschichte durch den bedeutendsten polnischen Diplomatiker, den vor einigen Jahren uns entrissenen verehrungswürdigen Stanislaw Ketr-zynski, haben es dringend notwendig, im Hinblick auf die von uns erwähnten neuesten Forschungen revidiert zu werden. Das trifft auch für das Kapitel zu, in dem Professor Tomkiewicz die Regierung Jan Kazimierz seit 1654 schildert. Der Autor unterläßt da völlig, die Hintergründe der österreichischen Intervention, der französischen Pläne der Königin Maria Ludowika ins rechte Licht zu setzen. Mit keinem Wort erfahren wir zum Beispiel, daß im Jahre 1657 ein förmlicher Sukzessionsvertrag zugunsten des Hauses Habsburg bindend geschlossen worden ist. Sehr vorteilhaft sticht von diesem Abschnitt der vorige, das schwierige Thema sachlich und unvoreingenommen behandelnde des verstorbenen Professors Korduba über die „Sintflut“ zu Beginn der Regierung Jan Kazimierz' ab.

Im großen und ganzen ist das Niveau der Cambridge History of Poland so hoch, daß man sie allen, die mit polnischer Sprache nicht vertraut sind, als das bei weitem beste Handbuch empfehlen kann« Dies um so mehr, als sich die Autoren von nationaler Gehässigkeit ebenso freihalten, wie von det jetzt im Osten als Tugend, ja als Verpflichtung des Gelehrten gepredigten^ Parteilichkeit Vom katholischen Standort aus wären vielleicht zu dem Kapitel über die Reformation ein paar kleine Vorbehalte anzumelden, doch werden diese reichlich durch die gerechte Würdigung der Verdienste aufgehoben, die sich die Kirche um Polens Staat, Volk und Gesittung erworben hat

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