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Die große Lehrerin der Menschheit

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ln seinen „Weltgeschichtlichen Betrachtungen hat Jacob Burckhardt gesagt: „Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung”, John Locke hat die Geschichte als die „große Lehrerin der Klugheit und der Staatskunst” bezeichnet. Das klingt schon wesentlich anders als die hämische Ansicht Börnes, daß die Geschichte der Völker den Geschichtsschreibern und den Buchhändlern, welche ihre Werke verlegten, etwas Geld eingebracht hat. Die Wandlung, die Lehre: das will doch auch besagen, daß die Geschichte mit den Generationen immer neu betrachtet, durchdacht und geschrieben werden muß. Ob es wirklich immer ohne Haß und Liebe möglich ist, bleibt Ansichtssache — Mommsen verneinte das und war der Ansicht, die Geschichte werde weder ohne Haß und Liebe gemacht, noch geschrieben. Indes die im Fortschreiten der Generationen sich ergebende Distanz, das Auffinden neuer Quellen namentlich zur neuern Geschichte —, von Bodenfunden zur ältesten zu schweigen: Dies eröffnet doch den redlichen Wissenschaftlern die Möglichkeit, die „große Lehrerin” aufzuzeigen. Ob es fleißige Schüler, ob es faule oder vorsätzlich schwerhörig sich stellende sind, die jene Lehrerin findet, bleibt gleich. Alle erleiden über kurz oder lang Geschichte, und vielleicht ist das gemeinsam Erlittene mehr gemeinschaftsbildend als so manche großartig klingende, ausgetrommelte Idee. Das vorliegende Werk unterscheidet sich von der ersten Auflage, die bereits vor mehreren Jahren we’thin Beachtung fand, zunächst in der Anordnung des ersten Bandes (von den Anfängen der Geschichte bis Karl den Großen). Hierfür zeichnet Professor Eduard von Tunk verantwortlich, der seit mehr als dreißig Jahren in der Schweiz ansässige Oesterreicher bewährt katholischer Gesinnung, dessen Weltliteraturgeschichte wir an dieser Stelle vor zwei Jahren würdigten. Tunk hat die Geschichte des antiken Orients nicht, wie üblich, nach Völkern, sondern nach chronologischen Gesichtspunkten und hinsichtlich der Raumeinheit behandelt. Man gewöhnt sich bald an diese Ordnung. Ferner ist die neue Ausgabe erweitert durch Kapitel über Indien, China und Japan in den Bänden II und III, gleichfalls von Tunk, und durch den Abschnitt „Einem anderen Zeitalter entgegen”, das Professor Dr. Arthur Mojonnier geschrieben hat (übrigens im Viermannteam, das diese Weltgeschichte verfaßte, der einzige Protestant).

Der augenscheinliche und besondere Vorzug des ersten Bandes ist seine kulturhistorische Warte, das glänzende Vermögen Tunks zur Zusammenschau nach streng logischer Einzelbetrachtung der Tatsachen, und, das soll bei einem wissenschaftlichen Werke nicht unerwähnt bleiben, die klare Sprache und die innerlich gefestigte Ueberzeugung. Man kann die Abschnitte des Bandes sowohl informativ als auch in der Form einer Speziallektüre vornehmen und wird immer bereichert sein. Wenn es auf Seite 539 heißt: „Ohne den Geist von Monte Cassino… bliebe das Werden des christlichen Abendlandes unverständlich”, leuchtet blitzartig die feste Position des Autors auf. Im zweiten Band (vom Karolingerreich bis zum Westfälischen Frieden) haben neben Tunk die Professoren Dr. Albert Renner (von Ludwig dem Frommen bis zum Uebergang zur Neuzeit) und Mojonnier (vom Zeitalter Spanien-Habsburgs bis zum Westfälischen Frieden) gearbeitet. Im dritten Band (von Ludwig XIV. bis zur Gegenwart) verfaßte Professor Dr. Gaston Castella den Abschnitt Europäische und amerikanische Geschichte bis 1945. Manche Kapitel lesen sich unerhört /spannend: so die Vorkriegszeit, die geraffte Darstellung des zweiten Weltkrieges und das große „Was nun?” nach 1945.

Das Bildmaterial ist klug ausgewählt, man wird bei den vielen Hundert von ganzseitigen Abbildungen nach Stichen, Gemälden, Miniaturen, Chroniken kunstgeschichtliche Funde von höchstem Interesse machen, und später bei den Photographien die geschickte Aufeinanderfolge und mitunter ihre innewohnende Tragik erspüren. Ob diese Ansichten auch zur Geschichte gehören, die nach Goethe das Beste im Enthusiasmus liefert, den sie erregt, mag dahingestellt bleiben. Unser neues Geschlecht sieht sich vom Enthusiasmus ferner denn je. Aber diese Jugend fühlt, und diese Bilder geben unmerklich dazu die Anleitung, daß die Geschichte „die unwiderstehlichste Autorität” ist und die Urteile der Geschichte Gottes Urteile sind — wie es einmal Schelling formuliert hat.

SCHATTEN DER WELTGESCHICHTE. Von Albert Hochheimer. Verlag Benziger & Co., Einsiedeln. 308 Seiten. Preis sFr. 17.80.

„Von Abenteurern, Betrügern und seltsamen Menschen”, heißt der Untertitel des Buches, in dem zehn ungewöhnliche Lebensschicksale behandelt werden. Schon immer haben jene Persönlichkeiten die menschliche Phantasie erregt, deren Auftauchen und Verschwinden geheimnisumwittert geblieben ist, deren Lebensspuren sich verwischten. Der Bogen der hier Nachgezeichneten spannt sich vom Altertum bis in die Neuzeit. Es sind dies: Der falsche Smer- dis, der medische Magier: Tile Kolups, welcher sich als Staufenkaiser ausgab; der falsche Kurfürst von Brandenburg; Claude de Morville, die als Jungfrau von Orleans ihr Unwesen trieb; Perkin Warbeck, der als thronberechtigter Prinz von England auftauchte; der falsche Demetrius; der russische Pilger Fedor Kusmitsch; Karl Wilhelm Naundorf, der vorgab, Ludwig XVII. zu sein; Kaspar Hauser und jener Prophet, der unter dem Namen „Madhi” den großen Sudanaufstand führte.

Der Verfasser der Bücher über die Geschichte der großen Ströme und über das Gold, ist von der Versuchung freigeblieben, mehr zu sagen, als ihm die Quellen bieten konnten. Der Blick auf das Literaturverzeichnis, dessen Fülle ihn nicht beirrte, zeigt, daß er mit kundiger Hand wählte und die Werke in der Originalsprache verwendete. Auch die neuesten Hervorbringungen, wie Andrė Mauroįs 1951 erschienene Geschichte Frankreichs, fanden Verwendung. Hochheimer zeichnet mit nobler Zurückhaltung, psychologischer Einfühlung und schöner Sprache die Bilder menschlicher Tragik und menschlicher Anmaßung. Er wertet vorsichtig und stellt sie uns als die unter ganz bestimmten Bedingungen entstandenen einmaligen historischen Erscheinungen vor. Er läßt alle Nebensächlichkeiten, strafft den Stoff und vermeidet das in ähnlichen Werken immer wieder auftauchende spekulative „Wenn”, das in einer ernsthaften Abhandlung keine Existenzberechtigung haben darf. Am besten gelungen ist wohl das Kapitel über Kaspar Hauser, das „Kind Europas”, jenem 1833 ermordeten Findling, in dem man den Erbprinzen des Badischen Thrones vermutet hat. Die volle Wahrheit über den Unglücklichen, der sogar als „Kaspar-Hauser- Komplex” (die Kontaktarmut des modernen Menschen damit bezeichnend) in die Psychologie Eingang fand, wird kaum ans Licht kommen, wie es sein Beschützer, der Strafrechtler Anselm von Feuerbach, gehofft hatte. Hochheimer sagt es mit Selbstbescheidung so: Die Geschichte Hausers sei Fragment und werde es wohl für immer bleiben. Tatsächlich ist die Forschung, deren Resultate Weglers Werk (Bilanz einer hundertjährigen Hauser-Forschung, Nürnberg 1926) beinhaltet, nur in Hypothesen steckengeblieben.. Obwohl sich die großen Abläufe seines Geschicks hinreichend geklärt haben, stehen noch immer die großen Fragezeichen über seiner Herkunft und dem Mordmotiv. Es ist also, wenn man so will, „veritė provisoire”, vorläufige Wahrheit. Ein Motto, das über manchem Kapitel dieses Werkes stehen kann.

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