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Ein seltsames Kapitel

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Der Verfasser, ein italienischer Historiker, hat für das so dunkle Kapitel der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1939 bis 1941 die erste brauchbare Darstellung geliefert. Er konnte sowohl die amerikanischen Publikationen als auch die deutschen Veröffentlichungen verwenden. Sehr wichtig war auch die Heranziehung des Bandes XII der ..Documenti Diplomatie! Italiani“ des italienischen Außenministeriums, wodurch der merkwürdige Annäherungsversuch Mussolinis an Moskau vom Sommer 1940 geklärt erscheint. Die ganze Frage wird vermutlich durch die jetzt in den USA im Erscheinen begriffenen Erinnerungen des früheren Legationsrates Hilger weitere Ergänzung erfahren. Tief bedauerlich ist es, daß keine ernsthaften Versuche von sowjetrussischer Seite unternommen wurden, wenigstens die Akten von März bis Oktober 1939 über die parallel verlaufenden Verhandlungen mit Deutschland und den Westmächten zu publizieren. Rossi kommt auf Grund der Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß die Annäherung, welche Moskau ab April 1939 gegenüber Berlin anstrebte, bereits in vorfühlenden Gesprächen früher nachweisbar ist. Dabei waren es auf beiden Seiten nicht die offizielle Diplomatie, sondern „Sonderbeauftragte“ Hitlers und Stalins, die zunächst im wirtschaftlichen Bereich unmittelbar nach dem Münchner Abkommen 1938 die Fühler ausstreckten. In seiner Rede vom 10. Mai 1939 auf dem Parteitag sprach Stalin von den Kastanien, welche Rußland für die Kriegshetzer aus dem Feuer holen sollte — ein deutlicher Wink der Absage an den Westen. Die Entlassung Litwinows im Mai. 1939 und die Gespräche Molotow-Schulenburg waren nur die Herausarbeitung der Bedingungen des Vertrages, zu dem Stalin bereits entschlossen war. Die frühe Gewißheit Hitlers, nur einen Einfrontenkrieg führen zu müssen, erklärt die Politik der letzten Monate gegenüber Polen und dem Westen. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August enthält das Geheimprotokoll, welches in Nürnberg eine so große Sensation hervorrief und die Aufteilung Polens und die Festsetzung der Interessensphären beinhaltet, gleichzeitig aber Deutschland durch die Errichtung eines politischen Reststaates hindert, eine Gesprächsbasis, wenn auch sehr zweifelhafter Art, in Zukunft mit dem Westen zu finden. Mussolini hat vor allem seinen Verbündeten immer wieder darauf gedrängt, ein neues „Kongreß-Polen“ und kein Generalgouvernement zu errichten. Als er diese Anregung am 3. Jänner 1940 in einem Brief an Hitler aussprach, wußte er nicht, daß schon im sogenannten zweiten Geheimprotokoll vom 28. September 1939 unter dem Druck Stalins die Reichsregierung auf jede Idee, einen restpolnischen Staat zu erhalten, verzichtet hatte. Interessant sind auch Rossis Entdeckungen über die militärische Intervention des Moskauer Partners im September 1939, die auf ausdrücklichen Wunsch der Reichsregierung erfolgt. Die politische Zusammenarbeit zwischen der UdSSR und Deutschland war bis zur Ribbentrop-Molotow-Unter-redung bei den Berliner Besprechungen vom 12. und 13. November 1940 in Gegenwart Hitlers sehr intensiv. Die Ursache für den Bruch ergab sich aus dem Konflikt der beiden imperialistischen Programme und erfolgte letzten Endes wegen der Fragen des Balkans und der Meerengen, somit eine Wiederholung ähnlicher Interessengegensätze vor 1914 darstellend. Die Bemühungen der russischen Diplomatie, durch eine Reihe von Maßnahmen ab Mai 1941 wieder den Kontakt, mit' Berlin herzustellen, scheiterten am Entschluß Hitlers, die Probleme, die er selbst durch den verhängnisvollen Pakt vom 23. August 1939 heraufbeschworen hatte, militärisch zu lösen.

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