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Der Boden, aus dem Hitler wuchs

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Vor 75 Jahren wurden die Friedensverträge des Ersten Weltkriegs unterzeichnet, mit Österreich in St. Germain am 10. September 1919.

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Vor 75 Jahren wurden die Friedensverträge des Ersten Weltkriegs unterzeichnet, mit Österreich in St. Germain am 10. September 1919.

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Mochte noch das Datum der Unterzeichnung eher vom Terminablauf als von der Absicht diktiert gewesen sein — der Ort war bewußt gewählt: Im Spiegelsaal von Versailles, wo am 18. Jänner 1871 das Deutsche Reich nach dem Sieg Preußens und seiner Verbündeten über Frankreich ausgerufen worden war, wurde am 28. Juni 1919 — am fünften Jahrestag des Attentats von Sarajewo - der Friedensvertrag unterzeichnet, den die Siegermächte dem unterlegenen Deutschland auferlegt hatten.

„Selbst vernünftigere Geister, die harte Friedensbedingungen erwartet hatten … waren schockiert über den Vertrag, mit dem die Ententemächte kraß gegen ihre eigenen Absichtserklärungen verstießen, indem sie etwa das deutsche Kolonialreich plünderten“, schreibt der englische Historiker Gordon A. Craig, „… (mit dem sie) die historischen Tatsachen verfälschten, indem sie Deutschland und seinen Verbündeten die alleinige Verantwortung für den Krieg zusprachen, die Regeln der wirtschaftlichen Vernunft verletzten, indem sie dem deutschen Volk eine unerhörte Reparationslast aufluden, zu deren Rechtfertigung die Kriegsschuldklausel diente, und was besonders unbegreiflich war, augenscheinlich jedes Interesse daran vermissen ließen, ob aus Deutschland eine lebensfähige Demokratie wurde oder nicht - warum hätten sie sonst die neue Republik mit solchen Demütigungen überhäuft?“

Der deutsche Historiker Veit Valentin zählt „vier Irrtümer der Siegermächte“ auf:

█ das Verbot des Anschlusses Österreichs — „Die Mehrheit der Weimarer Republikaner hätte … (darin) eine Genugtuung für andere Verluste erblickt“;

█ den Artikel über die Bestrafung der Kriegsverbrecher - „er war undurchführbar“ - und damit krachte es im ganzen Vertrag;

█ die Reparationsfrage — da man sich zunächst nicht über die Höhe einigen konnte, blieb sie der Anlaß für die jahrelangen Zänkereien über die deutschen Zahlungen;

█ und schließlich den Völkerbund, der zwar für die Durchführung des Vertrags zuständig war und damit die ganze Erbitterung der Deutschen gegen Versailles auf sich zog, aber Deutschland bis 1926 von jeder Mitarbeit ausschloß.

15 Teile mit 440 Artikeln umfaßte das Vertragswerk, das in der deutschen Publizistik bis weit nach links nur als „Diktat“ bezeichnet wurde. Das Reich mußte 70.000 Quadratkilometer Boden abtreten: Elsaß-Lo- thringen, Eupen und Malmedy, Westpreußen, Danzig, das Memelland und das Hultschiner Ländchen, ferner nach Volksabstimmungen Nordschleswig und Oberschlesien.

13 Prozent seiner Fläche mit sieben Millionen Einwohnern - unter denen nun drei Millionen Deutsche unter fremd-nationale Herrschaft kamen. Das Saarland mit seinen reichen Kohlevorkommen sollte 15 Jahre lang von Frankreich ausgebeutet werden, um dann in einer Volksabstimmung den weiteren Weg zu bestimmen - sie fiel am 13. Jänner 1935 mit mehr als 90 Prozent für die Rückkehr nach Deutschland aus.

Die Alliierten besetzten die linksrheinischen Gebiete, enteigneten das deutsche Auslandsvermögen, forderten Lieferungen von Kohle, Maschinen, Lokomotiven, Fahrzeugen, Vieh. Als endlich 1929 der Young- Plan — nach etlichen gescheiterten Vorgängern — das Endziel der Reparationen festsetzte, sah dieses bis 1988 - über 59 Jahre - noch 116 Milliarden Goldmark vor.

Erste Folge des Vertrags war der Rücktritt der Regierung Scheidemann, die ein halbes Jahr vorher den Waffenstillstand unterzeichnet hatte. Dann erlitten die Parteien, die für die Unterzeichnung eingetreten waren - SPD, Linksliberale und Zentrum - bei den Wahlen im Juni 1920 eine schwere Niederlage. Die Flügel rechts und links wurden gestärkt — der Kampf gegen die „Novemberverbrecher“, gegen Versailles, bestimmte von nun an die deutsche Innenpolitik bis 1933.

Die Frage zu stellen, ob auch ohne Versailles (in dieser Form) ein Aufstieg Adolf Hitlers möglich gewesen wäre, ist dem Historiker verwehrt.

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