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Der Friedensvertrag von 1919 war der erste Schritt zum nächsten Weltkrieg.Das Diktat erklärt manches - und entschuldigt nichts.

Man mag Deutschland seiner Kolonien berauben, seine Rüstung auf eine bloße Polizeitruppe und seine Flotte auf die Stärke einer Macht fünften Ranges herabdrücken; dennoch wird Deutschland zuletzt, wenn es das Gefühl hat, dass es im Frieden von 1919 ungerecht behandelt worden ist, Mittel finden, um seine Überwinder zur Rückerstattung zu zwingen ... Ungerechtigkeit und Anmaßung, in der Stunde des Triumphs zur Schau getragen, werden niemals vergessen noch vergeben werden." David Lloyd George warnte in seinem Memorandum vom 25. März 1919 die Friedenskonferenz, speziell den unerbittlichen französischen Ministerpräsideten Clemenceau. Lloyd George war Chef der britischen Delegation, die den Friedensvertrag von Versailles aushandelte, der wenige Monate später unterzeichnet wurde. Er sei entschieden dagegen, "dass mehr Deutsche aus deutscher Herrschaft unter die Herrschaft einer anderen Nation übertragen werden als durchaus notwendig ist". Das gleiche gelte für die Magyaren.

Lloyd George war nicht der einzige Warner, der in Versailles die Grundlage für den nächsten Weltkrieg entstehen sah. Wie die Pariser Vororte-Verträge ausgehandelt und durchgesetzt wurden, ist heute in einer breiteren Öffentlichkeit wie auch bei manchen Zeitgeschichtlern vergessen. Nun kann man nachlesen, wie genau manche das Kommende voraussahen und wie blinder Hass sie überhörte.

Das Buch, das jetzt neu vorliegt, hat zwar editorische Mängel. Es ist ursprünglich beim kleinen Münchner Verlag Matthes & Seitz erschienen und wohl in der Flut der Neuerscheinungen untergegangen. Die neue Ausgabe enthält den vollständigen Text des Versailler Friedensvertrages (wer hat ihn je gelesen?) und Urteile von Zeitzeugen aus dem Jahr 1919 oder auch viel später. Karl Kraus, Thomas Mann, Theodor W. Adorno, Ernst Jünger, Wilhelm Hoegner, Theodor Heuss, Sebastian Haffner, Lenin und viele andere: Mögen sie noch so unterschiedlichen "Lagern" zuzurechnen sein, in der Beurteilung des unheilvollen Vertragswerks waren sie wenig voneinander entfernt. "Die Geburtsstadt der Bewegung (Hitlers) ist nicht München, sondern Versailles" schrieb Deutschlands späterer erster Bundespräsident nach dem Krieg Theodor Heuss 1931.

Kurz vor der theatralischen Unterzeichnung im Spiegelsaal von Versailles am 22. Mai 1919 schrieb der südafrikanische Politiker Jan C. Smuts eine Mahnung an Lloyd George, in der er vor allem vor der 15-jährigen Besetzung des Rheinlandes warnte und vor der starken Beeinträchtigung der deutschen Industrieproduktion, die ja die Reparationen erarbeiten sollte. Man könne die Gans, die goldene Eier legen solle, nicht töten. Besonders hob er die 15-jährige Sonderverwaltung des Saarlandes (mit seinen Kohlebergwerken) hervor, an deren Ende eine Volksabstimmung über die Fortsetzung dieses Zustandes, den Anschluss an Frankreich oder an Deutschland entscheiden sollte.

Smuts wurde nicht gehört. Die Volksabstimmung brachte 1935 einen ersten "Heim-ins-Reich"-Triumph für Hitler. Smuts bemängelte auch die ungebührliche Vergrößerung Polens, die Millionen Deutsche und Russen unter polnische Herrschaft brächte. Überdies strotze der Friedensvertrag von kleinen Nadelstichen, "die nur die Launen untergeordneter Beamter verkörpern, und das dürfte in dem Friedensvertrage in seiner endgültigen Gestalt nicht so bleiben ... Es sollte unmöglich sein, dass der Vertrag später durch das deutsche Volk moralisch in Verruf gebracht würde ... Die endgültige Sanktion dieses großen Instruments muss seine Anerkennung durch die Menschheit sein." Groß gedacht vom Südafrikaner und (damals noch) Untertan der britischen Krone. Die deutsche Friedensdelegation warnte am 23. Juni 1919 Clemenceau: "Durch einen Gewaltakt wird die Ehre des deutschen Volks nicht berührt".

Der britische Diplomat und Schriftsteller Harold Nicolson hat das Zeremoniell von Versailles geschildert. Der Tisch für die Unterzeichnung wirkte auf ihn wie eine Guillotine. Clemenceau "schaut schmächtig und gelb aus. Ein zusammengekrümmter Homunculus". Nachher trifft sich Nicolson mit seinen Freunden: "Wir reden kein Wort miteinander. Das Ganze ist zu widerlich gewesen ... Eddie Marsh kam mit seinem Glas zu Tom hinüber und setzte sich neben ihn: Erfolg ist was Gemeines, nicht? - Zu Bett, krank vor Lebensekel."

Lenin sah während des Ersten Weltkrieges die Westmächte in militärischer, nachher alle Länder in wirtschaftlicher Abhängigkeit von den USA: "Der Versailler Vertrag hat für Deutschland und eine ganze Reihe anderer besiegter Länder Verhältnisse geschaffen, unter denen eine wirtschaftliche Existenz materiell unmöglich ist, Verhältnisse völliger Rechtlosigkeit und Erniedrigung." Nach den nicht gehaltenen Versprechungen Wilsons und dem "Diktatfrieden" von Versailles hatte die Demokratie in Deutschland kaum mehr eine Chance. Thomas Mann nach Hitlers Wahlsieg vom März 1933: "Es werden nicht nur die innerpolitischen, das heißt freiheitlichen und sozialen Folgen der Niederlage annulliert und ein Geisteszustand hergestellt, als ob der Krieg gewonnen worden wäre, sondern die eigentlich Geschlagenen halten sich schadlos für ihre Niederlage an der eigenen Nation, im sadistisch übermütigen Diktatstil Clemenceaus. Rachekrieg nach innen."

Als Hitler Zug um Zug den Vertrag revidierte, von der Rheinlandbesetzung bis zu den Grenzverschiebungen und der Schrumpfung der Wehrmacht, konnte er sich ein ums andere Mal feiern lassen. Einer der Gründe dafür, dass die Westmächte diese Revisionen bis 1939 hinnahmen, war sicher die späte Einsicht, dass sie 1919 Unmögliches diktiert hatten.

Versailles 1919 aus der Sicht von Zeitzeugen Von Sebastian Haffner u. a., Herbig Verlag, München 2002, 416 Seiten, geb., e 25,60

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