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St. Germaim Unrecht und Unsinn

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Hans Magenschab vertrat kürzlich in der „Presse“ die These, daß dem Friedensvertrag von St. Germain die heutige Existenz Österreichs, seine Eigenständigkeit, sein Selbstbewußtsein zu verdanken wären. Nun, es gibt nichts Schlechtes, das nicht auch seine guten Seiten oder Wirkungen hätte. Die normative Kraft der Tatsachen hat sich in diesem Fall sicher nicht schlecht ausgewirkt - über Generationen hinweg.

Winston Churchill dagegen meinte in seinem Werk „Der zweite Weltkrieg“: „Es gibt keine einzige Völkerschaft oder Provinz des habsburgischen Reiches, der das Erlangen der Unabhängigkeit nicht die Qualen gebracht Hätte, wie sie von den alten Dichtern und Theologen für die Verdammten der Hölle vorgesehen sind.“

Am 6. September 1919 hatte Österreichs junge Nationalversammlung die Bedingungen der Sieger akzeptieren müssen, am 10. September unterzeichnete Karl Renner den Vertrag, der von den Volksvertretern in Wien „für national ungerecht, politisch verhängnisvoll und wirtschaftlich undurchführbar“ bezeichnet worden war. Und der französische Sozialist Leon Blum meinte schon wenige Jahre später, die Friedensverträge seien nicht nur ein Unrecht, sondern auch ein Unsinn. „Sie enthalten Dinge, die gegen die Vernunft, die Notwendigkeit und Natürlichkeit der Entwicklung gerichtet sind.“

Für Frankreichs Ministerpräsidenten Georges Clemenceau war Österreich „der Rest“, der übrig blieb, sobald alle anderen Völker der Habsburgermonarchie ihre Wünsche befriedigt hatten. Die Tschechen forderten „historische Grenzen“ - mit welchem historischen Stichtag? —, besetzten unter diesem Titel die deutsch besiedelten Randgebiete und griffen über Thaya und Donau hinweg nach Feldberg und Engerau.

Den Italienern hatte Woodrow Wilson gerechte Grenzen nach klar erkennbaren ethnischen Kriterien zugesagt - nun sollte die Grenze am Brenner verlaufen, um Italien darüber hinwegzutrösten, daß es in Dalmatien, in Übersee nicht so viel bekommen würde, wie es sich gewünscht hätte.

ZUM STAAT WIDER WILLEN

Österreich mußte das Kanaltal an Italien, das Mießtal und die Südsteiermark an das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen abtreten. Nur das deutschbesiedelte West-ungarn - das spätere Burgenland - wurde nun Österreich zugesprochen (und ihm dann trotzdem noch Ödenburg herausgebrochen).

Die wirtschaftlichen Bedingungen des Vertrags von St. Germain trugen wesentlich zu Inflation, Arbeitslosigkeit, Dauerkrise — zum „Staat, den keiner wollte“ - bei. Das Verbot eines Anschlusses an das Deutsche Reich, das Verbot des Namens „Deutsch-Österreich“ heizte die Ablehnung des Diktats noch an - wo doch die Alliierten gleichzeitig den Zusammenschluß der südslawisehen Völker, der Tschechen, Slowaken und Karpato-Ukrainer in Mehrvölkerstaaten förderten.

Für die Sieger war es nicht nur wichtig, Deutschland keine Kompensation für die Verluste von Versailles zu geben, sondern auch die kleine Republik Österreich als Rechtsnachfolger des Westteils der Österreichisch-Ungarischen Monarchie festzuhalten — und ihr die Mitverantwortung für den Ausbruch des Weltkriegs anzuhängen. Um Österreich zu seinem heutigen Selbstverständnis zu verhelfen, mußte wohl zuerst das Gebäude von Versailles und St. Germain im Chaos des Zweiten Weltkriegs untergehen. fg

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