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Aktuelle Erinnerung

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FBr die österreichische Demokratie reihen ach in diesen Wochen denkwürdige Erinne-rongstage. Vor fünfzig Jahren war das Monatelang Ringen um die verfassungs-mäßigen Rechte der Wiener Gemeinde-antonomie zwischen Volk und kaiserlicher Krone auf seinem Höhepunkte angelangt.

In einer beispiellosen Erhebung hatte im September 1895 das Wiener Volk mit dem Stimmzettel in der Hand den bisher allgewaltigen Altlioeralismus in der Reichshauptstadt gestürzt und über Nacht eine Zweidrittelmehrheit im Wiener Gemeinderate erobert. Was noch vor wenigen Jahren unvorstellbar gewesen war: In ihrem Zen-, trum, der kaiserlichen Kapitale, war die Macht einer Herrschaft geborsten, der die Hochfinanz und die Börse, die gesamte Großpresse, die Hochbürokratie und einflußreiche Hofkreise verbunden waren. Der große Volkstribun Dr. Karl Lueger, der die Massen der „Vereinigten Christen“ gegen die bisherigen Beherrscher der Stadt, Nutznießer eines kapitalistischen Privilegienwahlrechtes, geführt hatte, war nun zur Bürgermeisterwürde der autonomen Reichshauptstadt berufen. Aber war er nicht ein Rebell, ein Aufwiegler, der böse Leidenschaften weckte, den inneren Frieden, das gute staatliche Verhältnis zur ungarischen Reichshälfte, schließlich auch Thron und Altar bedrohte? Die Wiener Großpresse schrieb es, die großen Herren der Bankwelt, flüsternde Stimmen am kaiserlichen Hofe die laute Verwahrung des ungarischen Ministerpräsidenten Banffy gegen diesen „Feind Ungarns“ wiederholten es: Der Kaiser dürfe diesem gefährlichen Aufrührer, würde er zum Bürgermeister gewählt, nicht die verfassungsmäßige Sanktion zu diesem Amte geben. Uneingeschüchtert durch alle Anklagen und Drohungen wählten am 29. Oktober 1895 93 Wiener Gemeinderäte Doktor Karl Lueger zum Oberhaupt der alten Kaiserstadt. Die liberale Minderheit, kaum mehr ein Drittel, gab leere Stimmzettel ab. Was Kaiser Franz Joseph nie zuvor in seiner schon fast fünfzigjährigen Regierungszeit und auch später niemals tat — diesmal verweigerte er, besorgt geworden, namentlich durch den Protest der ungarischen Regierung, die kaiserliche Bestätigung. Also Wiederholung der Bürgermeisterwahl, damit ein anderer, nicht dieser Unruhestifter, berufen werde! Doch die Wiener Volksboten standen wie ein Mann zu ihrem freien Wahlrecht. Am 13. November 1895 wählten sie abermals Dr. Lueger. Da zieht der kaiserliche Kommissär Friebeis mit zitternder Hand ein kaiserliches Dekret hervor, das den rebellischen Gemeinderat auflöst und Neuwahlen anordnet. Das Volk soll entscheiden, was gilt: Der Anspruch des Tribunen oder der kaiserliche Wille. Mit angehaltenem Atem verfolgten viele Millionen m ganz Österreich den Kampf der Wiener. Sie, empfanden ihn auch als ihre eigene Sache. In verbissener Entschlossenheit schlugen die Wiener am 18. April 1896 die neue Wahlschlacht. Aus den 92 bisher gewählten Gefolgsleuten Dr. Luegers wurden 96, und abermals wurde Dr. Lueger zum Bürgermeister gewählt. — In dem schweren Konflikt, dem seelisch tiefstreichenden in Wien seit dem Jahre 1848, fand der Monarch die versöhnliche Lösung durch einen persönlichen Appell an den Patriotismus Luegers, der „dermalen“ freiwillig verzichten solle, um bei Wiederkehr normaler Verhältnisse an die Spitze der Hauptstadt zu treten. Ein Jahr später war Lueger Bürgermeister. Dieser große Volksmann wurde der Stolz Österreichs und dt Stütze seines Kaisers.

Warum wir heute, auf ein halbes Jahrhundert zurückschauend, diese Erinnerungen auffrischen? Weil sie zeigen, daß es keine Demokratie von heute ist, die Österreich

besitzt. Weil diese Demokratie verbriefte Volksrechte schon vor einem halben Jahrhundert auch gegen die Prärogativen der Krone verteidigte, sie unerschütterlich verteidigte gegen das verfassungsmäßig verankerte Sanktionsrecht eines Herrschers, der nicht nur als der Kronenträger aus der ältesten Dynastie Europas, sondern als ein Muster strenger Pflichterfüllung, als ein von schweren Schicksalsschlägen ungebeugt gebliebener Mann einen Platz im Herzen des Wiener Volkes, mehr noch in dessen unbegrenzter Achtung als in seiner Liebe besaß. Nicht einmal von sejten eines solchen Herrschers und nicht einmal im Bereiche des Selbstverwaltungsrechtes der Hauptstadt

— also außerhalb der Gesetzgebung — ließ die Volkauffassung die Einschränkung der demokratischen Rechte zu.

Ein eigenartiger Zufall will es, daß jetzt

— fünfzig Jahre nach jener vielsagenden historischen Episode — abermals Volksrecht und Demokratie gegenüber einem Sanktionsrecht in Debatte gestellt wurden. Ein Nachfolger Dr. Karl Luegers, diesmal eine Persönlichkeit aus dem sozialistischen Lager, wurde im Nationalrat Sprecher im Namen der Demokratie. Es war ein Manneswort, nicht „vor Königsthronen“, aber doch vor den hohen militärischen Stellen der Besatzungsmächte. Angesichts einer die Lebensmittelanforderung betreffenden Gesetzesvorlage und in derem Eingange ausgesprochenen Bestimmung, daß das Gesetz nicht eher in Kraft trete, als es nicht die Genehmigung des Alliierten Rates erhalten habe, warf der Präsident der sozialistischen Partei die Frage auf, ob mit der Stellung des österreichischen Parlamentes als „echter, unangefochtener, von allen anerkannten wirklichen Vertretung des Volkes“, es vereinbar sei, daß das Parlament zufolge dieser Sanktionsklausel „andere außerhalb des Staates stehende Organe fragen muß, ob sie das Gesetz sanktionieren . Der Redner appellierte an die Würde der anderen, die uns in der Vertretung demokratischer Rechte immer vorbildlich waren, auch die

Würde dieses kleinen österreichischen Staates und seines Parlamentes zu wahren“.

Es wäre nicht fair, bezweifeln zu wollen, daß an den maßgebenden Stellen der Besatzungsmächte und überall im Auslande diese freimütigen Worte empfunden werden als die Bekundung einer kernhaften Demokratie, nach der hier doch der übereinstimmende Wille der Mächte und die unserem Lande gewährte und uns verpflichtende Hilfsbereitschaft verlangen. Ja, daß diese Bekundung an den Adressen, an die sie zunächst gerichtet ist, mit der stillen Genugtuung aufgenommen wird als ein, Zeichen, daß Österreich nicht jenes Land der

Knechte ist, zu dem es der Nazismus gestalten wollte. Die großen Nationen haben nicht umsonst ihre Macht und ihr eigenes Blut für die Wiederherstellung, der Unab-, hängigkeit dieses Staates eingesetzt.

Die österreichische Demokratie ist keine Mode, aus augenblicklicher Lage geboren. Sie bezieht ihre Kraft aus einer folgerichtigen Entwicklung, in der sie sich ungehemmt durch Verfassungsformen bewähren konnte. Sie wäre nicht wirkliche Demokratie und staatsaufbauendes Element ohne Freiheitsliebe und würdevolle Selbstachtung, diese Bürgschaften ehrenhaften Bestandes eines Staates des 20. Jahrhunderts.

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