6611959-1955_05_10.jpg
Digital In Arbeit

Der ewige Wiener

19451960198020002020

Dr. Karl Lueger. Der Mann zwischen den Zeiten. Von Kurt Skalnik. Herold-Verlag, Wien-München 1954. 182 Seiten. Preis 36 S

19451960198020002020

Dr. Karl Lueger. Der Mann zwischen den Zeiten. Von Kurt Skalnik. Herold-Verlag, Wien-München 1954. 182 Seiten. Preis 36 S

Werbung
Werbung
Werbung

Suchte man nach einer geschichtlichen Gestalt, die den Typus des Wieners aufs Gültigste verkörpert, wüßten wir niemand, der dies so vollkommen vermöchte wie Karl Lueger. Es eigneten ihm zugleich die Eigenschaften des Durchschnittsbewohners der Kaiserstadt, des kleinen Mannes, dem der Volksbürgermeister darum so teuer war, und die besten Vorzüge eines liebenswürdigen, hochbegabten Menschenschlags, die bei diesem genialen Politiker und Verwalter den nie vorher, noch später erlangten Grad der Unübertreffbarkeit erreichten. Skalnik hat in seinem ausgezeichneten Buch beide, den Menschen und den schöpferischen Gemeinschaftslenker, richtig erfaßt. Nach populären Schriften von Kuppe — der brauchbarsten —, Mach und Stauracz empfangen wir endlich eine psychologische Studie, die nicht nur Lueger selbst, sondern auch seine Umwelt aus seinen und ihren Voraussetzungen begreifen lehrt. Der Autor hält sich gleichermaßen von unkritischer Panegyrik wie von kleinlichen Mäkeleien frei. Das eine und das andere zeigt sich zum Beispiel an der taktvollen Art, mit der Skalnik das Verhalten des einstigen Führers der Christlichsozialen gegenüber der Religion behandelt. Er macht aus Lueger weder einen Heiligen, noch einen vom Ehrgeiz zum Vortäuschen frommer Gesinnung getriebenen Heuchler; der Bürgermeister erscheint vielmehr auch darin als der echte Vertreter seiner Stadtgenossen, daß er sich mit dem Katholizismus zutiefst verbunden fühlt, daß ihm Dogmen kein Problem und daß ihm gewisse Forderungen der Moral“ keine drückenden Ketten waren; daß er der Kirche mit einer Selbstverständlichkeit liebende Treue weihte wie sonst nur noch dem österreichischen Vaterland und der Dynastie. Kurt Skalniks Studie ist weniger eine eigentliche Biographie, die alle Phasen des Werdegangs Doktor Karl Luegers chronologisch erzählte, denn die Ueber-schau einer Gesamtpersönlichkeit und einer Gesamtleistung, wobei freilich der Bericht in die Zeit eingeordnet wird und sich das eine jeweils aus dem andern ergibt. Mit einer Logik, die uns keinen Augenblick an einem zäh und klar verfolgten Lebensplan Luegers zweifeln läßt; an einem Plan, dessen Krönung allerdings die Vorsehung verweigert hat. Denn der Volksmann, der im unaufhaltsamen, ob auch mehrmals gehemmten Aufstieg, binnen zwanzig Jahren den Weg vom erredeten und erschmeichelten Gemeinderatsmandat zum Bürgermeisterstuhl zurückgelegt hat, ist zwar zum bedeutendsten Oberhaupt geworden, das Wien jemals besessen hat; er vermochte in der Residenzstadt eine Reihe umstürzender Reformen zu verwirklichen — von denen Skalnik die Kommunalisierung der Gaswerke als Beispiel eingehend schildert, während er auf näheren Bericht über die Verstadtlichung der Straßenbahnen, über den großartigen Wald- und Wiesengürtel, über die Stadtbahn, die Verschönerung der Gärten, die zweite Wasserleitung, verzichtet —, doch den weiteren Sprung aus dem Rathaus ins Ministerpräsidium, wo er eine erneuerte österreichische Monarchie unter dem Kaiser Franz II. hätte regieren sollen, das ist Lueger nicht vergönnt gewesen. Franz Ferdinand mußte im Belvedere ungeduldig warten und starb unter den Mörderkugeln zu Sarajewo. Und der Wiener Bürgermeister, der providentielle Staatsmann österreichischer Wiedergeburt, war schon vier Jahre vorher, ein früh von der Krankheit gebrochener Greis, dahingestorben. Unser Autor spricht von diesem tragischen Nicht-erfüllen einer Sendung knapp. Der Staatsmann Lueger hätte mehr Raum in diesem Buch verdient: nicht geringeren als der Demokrat und, ein wenig, Demagoge, der in die Gemeindestube einzog, als der Parteimann und Parteiführer, der den „Demokraten“, dann den „Vereinigten Christen“ und schließlich den Christlichsozialen Sieg auf Sieg errang; nicht geringeren als das Stadtoberhaupt, dem das Wien des 20. Jahrhunderts den Rahmen seiner Schönheit dankt, und der den Grund zum sozialen Fortschritt legte, auf dem später Luegers politische Widersacher weiterbauten.

Im einzelnen ist Skalniks Buch auf soliden und gründlichen Quellenstudien und auf der Kenntnis der Atmosphäre Wiens, des alten Oesterreichs, gestützt. Stenographische Protokolle, Zeitungen, Memoirenwerke und Dissertationen bilden das wesentliche Rüstzeug der Darstellung. Eine kapitale Quelle ist dem Verfasser entgangen; sie unterrichtet uns über die Vorgänge, die zur Nichtbestätigung, dann aber zur kaiserlichen Audienz und zur endlichen Bestätigung Luegers in den Jahren 1895 bis 1897 führte. Es sind das die Erinnerungen des Ministers Kazimierz Chledowski, die polnisch 1951 erschienen sind. Darnach haben beim Vorgehen des Ministerpräsidenten Grafen Badeni die drei Beamten seines Kabinetts, Halban-Blumenstock, Freiberg und Wiener, dann eine einflußreiche Gestalt der gali-zischen Politik und Wirtschaft, Rappaport, sämtlich aus naheliegenden Gründen erbitterte Gegner des als Antisemitenführer verschrienen Lueger, die / entscheidende Rolle bei der anfänglichen Ablehnung des Kaisers gespielt, den Neugewählten als Bürgermeister zu bestätigen. Die Wandlung ist, wiederum gemäß dem vortrefflich informierten Chledowski, auf das Eingreifen des Landesverteidigungsministers Grafen Welsersheimb, des Ackerbauministers Grafen Ledebur und des, zwar mütterlicherseits von Juden stammenden, doch die politischen Gesamtinteressen stets voranstellenden Finanzministers Bilinski zurückzuführen gewesen. Sehr richtig schildert übrigens Skalnik den „Antisemitismus“ Luegers, eine Haltung, die — echt wienerisch — himmelweit vom tierischernsten, dogmatischen und „zoologischen“ Antisemitismus entfernt war, den etwa Schönerer und später der Nationalsozialismus aufs Panier schrieben; die anderseits nicht Konjunkturmache oder Betrug gewesen ist, sondern Reaktion auf unerfreuliche Eindrücke, und die weder in Roheiten ausartete, noch sich gegen einzelne und schon gar nicht gegen wertvolle Mitbürger kehrte.

Gerne hätten wir Luegers Beziehungen zum Belvedere näher beleuchtet gesehen. Er hat ja zweifellos die besondere Gunst und das höchste Vertrauen des Thronfolgers genossen, dessen Stiefmutter sich unter den Mäzenen der „Vereinigten Christen“ befunden hatte und der mit untrügbarem Flair im Wiener Bürgermeister den österreichischesten aller Staatsmänner und den staatsmännischesten aller Oesterreicher erkannte. Vielleicht darf ich in diesem Zusammenhang an einen heute vergessenen „Zukunftsroman“ erinnern, der um 1906 erschienen ist und „Oesterreichs letzten Kampf“ mit wahrhaft prophetischem Blick schilderte. Da war Lueger die Rolle als Retter der zerfallenden Monarchie zugedacht; von einem Autor, der sichtlich dem Belvedere, mindestens gedankenmäßig, nahestand.

Zuletzt noch dies. Skalnik charakterisiert Lueger, als „den Mann zwischen den Zeiten“. Wie treffend, das mag eine merkwürdige Parallele zu einer Würdigung des eben verstorbenen Bürgermeisters zeigen, die in der Wiener „Zeit“ (Nr. 2679) vom 10. März 1910 erschienen ist und die, nebenbei bemerkt, unter allen damaligen Nachrufen den Verstorbenen am tiefsten erfaßte. Es heißt darin: „Lueger war ein Uebergang und deswegen gerade der repräsentativste Mann des Oesterreich von heute, des Oesterreich im Uebergang vom bevormundenden Absolutismus zur selbstregierenden Demokratie. Er hat das Volk übernommen, so vernachlässigt, so zurückgeblieben, so ungewaschen und ungekämmt, wie es der alte Polizeistaat zurückgelassen hatte. Aber, immerhin, er war der erste in Oesterreich, der das Volk zu Ehren gebracht hat. Und deshalb soll das Volk ihn ehren.“ Skalniks schönes und bedeutendes Buch möge dazu beitragen, daß die Gestalt Karl Luegers den Wienern, den Oesterreichern in Erinnerung gerufen werde. In den Ländern jenseits unserer Grenzen aber verbreite es die Kunde von einem interessanten und bedeutenden Menschen, in dem sich, samt einigen — meist sympathischen — Schwächen, alle die reichen Gaben wiederfinden, die man mit Fug den Bewohnern der einstigen Kaiserstadt nachrühmt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung