Der antisemitische Volkstribun

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Vor 100 Jahren starb eine der prägendsten wie umstrittensten politischen Persönlichkeiten der späten Donaumonarchie: der christlichsoziale Wiener Bürgermeister Karl Lueger.

In den Morgenstunden des 10. März 1910 starb nach langem schwerem Leiden und völlig erblindet im 66. Lebensjahr der christlichsoziale Bürgermeister von Wien, Dr. Karl Lueger. Die Nachrufe auf den großen Kommunalpolitiker und charismatischen Volkstribunen, der in der Hauptstadt des vielgestaltigen, multinationalen Habsburgerreiches wie ein ungekrönter König von 1897 bis 1910 geherrscht hatte, waren widersprüchlich. Sie reichten von der wehmütigen Todesklage über den Verlust einer parteipolitischen Lichtgestalt in der christlichsozialen Reichspost über die kritische Wertschätzung in der bürgerlich-liberalen Neuen Freien Presse bis zur sozialdemokratischen Arbeiter Zeitung, die ihm skrupellose Demagogie, Rücksichtslosigkeit gegenüber seinen politischen Gegnern und den Missbrauch behördlicher Macht für Parteizwecke vorwarf.

Das Leichenbegängnis des Bürgermeisters zeugte von dessen ungeheurer Strahlkraft und Popularität. An der feierlichen Einsegnung im Stephansdom nahmen der Kaiser und alle in Wien anwesenden Mitglieder des Herrscherhauses teil, Zehntausende säumten die Straßen, an denen der Leichenzug an schwarz beflaggten Häusern vorbei seinen Weg zum Zentralfriedhof nahm. Unter ihnen war auch ein junger Mann, der seit ein paar Jahren in Wien dahinvegetierte und zu den Bewunderern des Verstorbenen zählte: Adolf Hitler.

Wien im Auf- und Umbruch

Karl Lueger war ein groß gewachsener, breitschultriger Mann mit vollem brünettem Haar, feinen Gesichtszügen und gepflegtem Bart, eine imposante, achtungsgebietende Persönlichkeit, ein Frauenschwarm. Für weibliche Reize durchaus empfänglich, blieb er zeitlebens unverheiratet. Auf Häuslichkeit brauchte der „schöne Karl“ dennoch nicht zu verzichten. Der Junggeselle wurde von seinen zwei Schwestern, die den grauen Alltag von ihm fernhielten, rührend umsorgt.

Lueger, der dem Wiener Kleinbürgertum entstammte, entschied sich nach dem Studium der Jurisprudenz für den Beruf eines Rechtsanwaltes, eröffnete 1874 eine eigene Anwaltskanzlei und stieg in die Politik ein. Er hätte den Zeitpunkt nicht besser wählen können. Die Kaiserstadt an der Donau erlebte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch einen gigantischen Auf- und Umbruch. Nach der Schleifung der Stadtmauern, die durch ein kaiserliches Handschreiben vom 20. Dezember 1857 angeordnet wurde, setzte ein ungeheurer Bauboom ein. Auf dem Areal vor der Innenstadt entstand die Ringstraße mit ihren imposanten Repräsentationsbauten, Palästen und Gartenanlagen. Großbanken, in- und ausländische Kapitalgesellschaften wurden gegründet, das Spekulationsgeschäft blühte. Das auf unsicherem Finanzboden wuchernde Wirtschaftswachstum führte im Mai 1873 zum Zusammenbruch der Börse, der gewaltige Konsequenzen hatte. In den Vorstädten schossen Fabriken aus dem Boden, die mit ihren billigen Produkten die Existenz der kleinen Handwerker und Gewerbetreibenden bedrohten. Die Menschenmassen, die in der Hoffnung auf bessere Lebens- und Erwerbsmöglichkeiten aus vielen Teilen des Großreiches in die Hauptstadt strömten, fanden in rasch errichteten Zinskasernen Unterkunft, ihre Arbeitskraft wurde von gewissenlosen Unternehmern ausgebeutet. Sie begannen sich in neuen (Massen-)Parteien zu organisieren.

Wien wurde zur Millionenstadt. Die Zahl der Einwohner stieg von 550.000 im Jahr 1861 durch die enorme Zuwanderung und die Eingemeindung der Vororte auf mehr als zwei Millionen im Jahr 1910 und stellte die Stadtverwaltung vor riesige infrastrukturelle Aufgaben und Probleme. Nationale und soziale Vorurteile bewirkten heftige gesellschaftliche Erschütterungen.

Antiliberal & antikapitalistisch

Karl Lueger verdiente sich seine ersten politischen Sporen in seinem Wiener Heimatbezirk, der Landstraße. Er wurde 1875 auf einer liberale Liste in den Gemeinderat gewählt, 1885 errang er ein Reichsratsmandat, 1893 gründete er die Christlichsoziale Partei, die er auf einen scharfen antiliberalen und antikapitalistischen Kurs einschwor. Lueger war ein geborener Populist, der in Vorstadtwirtshäusern und Versammlungssälen, auf Märkten und in Fabrikhallen mit untrüglichem Instinkt die Volksstimmung erspürte und die Massen durch seine fulminante Rednergabe und sein schauspielerisches Talent in seinen Bann schlug. Der junge Journalist Friedrich Funder, der ihn 1894 zum ersten Mal reden hörte, war tief beeindruckt: „Seine klare Stimme durchdrang auch den schlimmsten Tumult. Seine Rhetorik bewegte sich in einfachen Sätzen. Er hatte die Gabe, die Dinge so beim Namen zu nennen, daß sie auch der einfachste Mann verstand. Nie bemühte er sich um lange Erklärungen, juristische Begründungen und umständliche Beweisführung …“, erinnerte er sich später in seinem Buch „Vom Gestern ins Heute“.

Auch andere Zeitgenossen, Gegner wie Kritiker, sprechen unisono von der rhetorischen Suggestionskraft Luegers, der sich kaum einer der Zuhörer entziehen konnte. Lueger spielte seine Verführungskünste voll aus. Gedankentiefe wird seinen Reden nicht attestiert. Sie war auch gar nicht beabsichtigt. Karl Lueger appellierte an den Instinkt der Masse. Er schürte Ängste, war in der Wortwahl alles andere als zimperlich und scheute auch vor Verunglimpfungen seiner Gegner und der Bevölkerungsgruppen, die er für Staatsfeinde hielt, nicht zurück. Als „Anwalt der kleinen Leute“ wetterte er gegen Juden, Tschechen und Sozialdemokraten.

Lueger schlug in seinen Reden scharfe antisemitische Töne an und attackierte insbesondere das jüdische Großkapital und die Judenpresse. Das hörte sich dann so an: „Der Einfluß auf die Massen ist bei uns in den Händen der Juden, der größte Teil der Presse ist in ihren Händen, der weitaus größte Teil des Kapitals und speziell des Großkapitals ist in Judenhänden und die Juden üben hier einen Terrorismus aus, wie er ärger nicht gedacht werden kann …“ In Wien gebe es doch Juden wie Sand am Meer, höhnte er, man begegne ihnen im Theater, auf der Ringstraße im Konzert, auf Bällen und an der Universität. Lueger machte sich mit ideologischer Unterstützung des politischen Katholizismus mit konsequenter Zielgerichtetheit die antisemitische Grundstimmung seiner Zeit zunutze und setzte sie als politische Waffe ein. Er hat mit ihr ein gefährliches Spiel getrieben und historische Schuld auf sich geladen. Wer dieses verhängnisvolle Leitmotiv seines Wirkens mit dem Hinweis auf seine jüdischen Freunde und auf seinen Ausspruch „Wer a Jud is, bestimm i!“ kleinzureden und zu verharmlosen versucht, kann diese Fehleinschätzung in Hitlers „Mein Kampf“ nachlesen.

Vater der modernen Großstadt

Unbestritten sind Luegers hervorragende kommunalpolitische Leistungen. „Als einer, der in der Geschichte dieser Stadt tiefe Furchen gezogen, wird Lueger haften bleiben im Gedächtnis der Stadt“, schrieb der Chefredakteur der Arbeiter Zeitung am Schluss seines Nachrufes anerkennend. In der Ära des christlichsozialen Bürgermeisters wurden die Gas- und Elektrizitätswerke, die Verkehrsbetriebe und die Totenbestattung kommunalisiert, die Armenfürsorge ausgebaut, das Versorgungsheim in Lainz, Schulen, Kranken- und Pflegeanstalten errichtet, Park- und Grünanlagen angelegt. Das Geld für die gigantischen Investitionen, die hiefür nötig waren, verschaffte sich der Bürgermeister durch langfristige Anleihen im In- und Ausland. Wien wurde zur modernen Großstadt. Das ist das bleibende Verdienst des kleinbürgerlichen Volkstribunen Karl Lueger.

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