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Erinnerung an Karl Lueger

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„Stefan Großmann lobt nicht sich, aber er lobt die Güte des Herrn, die ihn geschaffen“, schrieb Robert. Musil 1930 nach der Lektüre der Lebensgeschichte „Ich war begeistert“. Nun sind die Memoiren des 1935 verstorbenen, zu Unrecht vergessenen Wiener Journalisten im Scriptor Verlag, König-stein/Taunus wieder erschienen. Viele Ansichten des Autors, der im geistigen Niemandsland zwischen Sozialisten und Liberalen seinen skeptischen Standort gefunden hat, sind eigenwillig, ja fragwürdig, doch bietet das Buch das Bil^d einer Epoche und das Selbstbildnis eines klugen und redlichen Menschen. Die hier geschilderte Episode aus dem Leben Karl Luegers mag auch die unmittelbare Frische dieser Memoiren fühlen lassen.

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„Stefan Großmann lobt nicht sich, aber er lobt die Güte des Herrn, die ihn geschaffen“, schrieb Robert. Musil 1930 nach der Lektüre der Lebensgeschichte „Ich war begeistert“. Nun sind die Memoiren des 1935 verstorbenen, zu Unrecht vergessenen Wiener Journalisten im Scriptor Verlag, König-stein/Taunus wieder erschienen. Viele Ansichten des Autors, der im geistigen Niemandsland zwischen Sozialisten und Liberalen seinen skeptischen Standort gefunden hat, sind eigenwillig, ja fragwürdig, doch bietet das Buch das Bil^d einer Epoche und das Selbstbildnis eines klugen und redlichen Menschen. Die hier geschilderte Episode aus dem Leben Karl Luegers mag auch die unmittelbare Frische dieser Memoiren fühlen lassen.

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Wir alle taten ihm in einem Punkte schweres Unrecht: Wir haben ihm seine Frömmigkeit nicht geglaubt. Und doch hat Lueger keine Komödie gespielt, wenn er sich als den guten Christen ausgab, der er von Haus aus gewesen, so wenig wie Hermann Bahr Komödie trieb, als er sich in reiferen Jahren als guten Katholiken bekannte. Das wahre Religionsbekenntnis legt erst der reife Mensch ab. Man sollte niemand vor seinem vierzigsten Jahre fragen, welcher Religion er angehört. Es gibt ein erstes instinktives Herumtoben und Herumtollen in der Welt, das man gottlos nennen könnte. Man muß durch seine Welt geflogen und zu sich selbst zurückgekehrt sein, um annähernd zu wissen, wo Gott wohnt.

Eine Szene, bei der ich Respekt vor

Lueger bekam, ist aus meinem Gedächtnis nicht zu löschen: Sozialisten hatten in einem Arbeiterbezirk eine Versammlung einberufen mit der Tagesordnung: „Christlichsozial oder Sozialdemokratisch.“ Adler selbst war gegen solche gesprochenen Weltanschauungsduelle. Er war ja auch gegen den Freidenkerschwatz. Es kam nichts heraus bei ■ diesen unproduktiven Gegenüberstellungen unverrückbarer Weltanschauungen. Aber ein paar Unteroffiziere und Bezirksführer der Partei hatten nun einmal die große Versammlung arrangiert, sie hatten Lueger persönlich dazu eingeladen, und „der schöne Karl“ erschien.

Der Saal war voll zum Ersticken. Fast nur Arbeiter waren da und Lueger mit fünf oder sechs Freunden.

Kein Zweifel, es war ein mutiges Stück, sich in diese wild erregte Versammlung fast ohne Schutz zu begeben. Zu einer eigentlichen Diskussion ist es nicht gekommen, denn statt daß die Veranstalter die Tapferkeit Luegers anerkannten oder obwohl sie sie vielleicht im stillen anerkannt haben, durften sie es oder mußten sie es dulden, daß Lueger schon beim Betreten des Saales mit unsagbaren Schimpf- und Schmähworten begrüßt wurde. Sowie er auf die Tribüne trat, ging das wüste Geheul wieder los. Lueger sah ein, daß es gar keinen Sinn hatte, vor diesen tobenden Fanatikern sprechen zu wollen. Und als er eine Zeitlang stumm gewartet und seinen Sack voll Beleidigungen eingesammelt hatte, entschloß er sich, den Saal wieder zu verlassen.

Zwei Ordner bahnten ihm durch das Gedränge eine Gasse. Wieder tobende Beschimpfungen, ja, man spuckte ihn an und drohte ihm mit der Faust. Ich stand am Rande dieser Gasse und sah Lueger durch das Spalier ganz langsam vorwärtsschreiten. Den langen Weg von der Rednertribüne bis zum Ausgang des Saales wiederholte er nur einen einzigen Satz, den er wie einen schützenden Schild vor sich hielt. Er sagte ununterbrochen mit lauter, nicht einzuschüchternder Stimme: „Gelobt sei Jesus Christus!“

Ich war damals nicht reif genug, um die Größe dieser Szene vollkommen zu begreifen, aber wenn ich sie mir heute vergegenwärtige, so ziehe ich den Hut vor der Unerschütterlichkeit dieses tapferen Christen.

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