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Im Dienst des Werks

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Zu Lebzeiten Gustav Mahlers, der ja nicht nur ein berühmter, skandalumwitterter Komponist, sondern auch der bewunderte und gefürchtete Direktor der Wiener Hofoper war, sind seine Symphonien recht häufig aufgeführt worden. Das blieb auch in den nächsten zehn Jahren nach seinem Tod so, zumindest in Wien, wo es in den beiden Spielzeiten 1918/19 und 1920/21. nicht weniger als zwölf Aufführungen des „Lieds von der Erde“ gegeben hat.

Noch im Todesjahr Mahlers hatte Bruno Walter in München die Uraufführung dieses nachgelassenen Werkes dirigiert, und im Jahr darauf folgte die Uraufführung der zu Mahlers Lebzeiten ebenfalls nicht gespielten IX. Symphonie. Aber bereits zu Beginn der dreißiger Jahre verschwanden Mahlers Werke, Symphonien und Lieder, fast spurlos von den Spielplänen, und zwar nicht nur von den deutschen und österreichischen.

Die Freunde und Verehrer Mahlers, die Kenner und Bewunderer seines Werkes, empfanden dies als sehr schmerzlich, und mit einigen „Wiedergutmachungskonzerten“ nach 1945, zum Teil von zweifelhafter Qualität, wollten sie sich nicht begnügen.

Da kam, vom damaligen Vorstand der Wiener Philharmoniker, der Vorschlag, eine Gustav-Mahler-GeSeilschaft zu gründen. Der Gedanke wurde von dem Professor an der Wiener Musikakademie (jetzt Hochschule für Musik) Erwin Ratz und von dem Ministerialrat Dr. Josef Polnauer aufgegriffen. Beide waren Schönberg-Schüler, der letztere auch Schönbergs Assistent und genauer Beobachter aller von Mahler geleiteten Konzerte und Opernaufführungen. Ein Besuch von Bruno Walter in Wien bot Gelegenheit, diesem das Ehrenpräsidium anzutragen, und am 11. November 1955 wurde die „Internationale Gustav-Mahler-Gesellschaft“ gegründet.

Dem ersten Vorstand haben angehört bzw. gehörten an: Otto Erich Deutsch, Gottfried von Einem, Heinrich von Kralik (der im Österreichischen Rundfunk den ersten großen Mahler-Zyklus veranstaltet hat), Baron Erwin Mittag, Egon Seefehl-ner, Egon Hilbert und der damalige Präsident der Wiener Musikakademie Hans Sittner; ferner, aus dem Ausland: Theodor W. Adorno, Luigi Dallapiccola, Goffredo Petrassi, Luigi Rognoni, Claude Rostand, Egon Wellesz u. a. Von allem Anfang an wurde Kontakt zur Familie Mahlers aufgenommen: zu Alma Mahler-Werfel und deren Tochter Anna Mahler. Zu Ehrenmitgliedern der Gesellschaft wurde eine Reihe bekannter Dirigenten ernannt, die als Interpreten von Mahlers Werk qualifiziert waren oder von denen man annahm, daß sie sich dafür einsetzen würden: Klemperer, Mitropoulos, Schuricht, Stokowski, Zillig, Swa-rowsky, Ormandy, Kubelik, Prings-heim, Solti, Rosbaud, Haitink und einige andere.

Zwei Hauptziele hatte sich die Internationale Gustav-Mahler-Gesellschaft gestellt: Für die Aufführung von Mahlers Werken immer wieder einzutreten und eine allen Anforderungen entsprechende Gesamtausgabe vorzubereiten. Was die Aufführung der Werke betrifft, so hat sich die Gesellschaft nachdrücklich für die großen, bisher arg vernachlässigten „reinen“ Instrumentalsymphonien eingesetzt, die wohl auch die bedeutendsten Werke Mahlers sind: die Fünfte, Sechste, Siebente und die Neunte. Diese stehen gegenwärtig in Wien ebenso oft auf den Programmen wie die bisher bevorzugten: die Symphonien I bis IV sowie die Achte.

Was die kritische Gesamtausgabe betrifft, so liegt diese ganz in den Händen von Prof. Erwin Ratz, dem gründlichsten Kenner der Materie. Seine Arbeit ist schon weit fortgeschritten, es fehlen nur noch die Symphonien III und VIII sowie „Das Klagende Lied“. Von den ersten drei Sätzen der IX. Symphonie liegt eine Faksimile-Wiedergabe des ersten Partiturentwurfes vor, von der Zehnten wird nur das Adagio herausgegeben, die Vervollständigung und Aufführung des ganzen Fragmentes lehnt der Vorstand der Mahler-Gesellschaft als unverantwortlich ab. Ebenso hat er sich gegen die Aufnahme des sogenannten „Blu-mine“-Satzes in die 1. Symphonie ausgesprochen; man möge dieses stimmungsvolle Orchesterstück gelegentlich extra aufs Programm setzen.

Die kritische Ausgabe gestaltete sich deshalb so schwierig, weil Mahler bei jeder Aufführung, die er selbst leitete oder an der er teilnahm, instrumentale Retouchen an seinen Partituren vornahm. Diese gilt es zu koordinieren — und vieles andere mehr zu berücksichtigen.

Unterlagen für die kritische Gesamtausgabe sind mehr als 6000 Seiten Manuskripte, Skizzen, von Mahler korrigierte Partiturseiten und Briefe, die das Archiv der Mahler-Gesellschaft aufbewahrt. Ferner besitzt es nicht nur sämtliche Schallplattenaufnahmen von Mahlers Werken, sondern auch eine große Anzahl von Tonbändern mit verschiedenen Interpretationen. Das Archiv der Mahler-Gesellschaft enthält ferner eine vollständige Bibliographie des Schrifttums über Gustav Mahler, insgesamt mehr als 2500 Titel. Auch an eine Herausgabe der Briefe Mahlers ist gedacht, doch ist dies eine cura posterior, und es wird noch einige Zeit dauern, bis es soweit ist.

Hier also, im Archiv der Mahler-Gesellschaft, können sich Musiker, vor allem Dirigenten und Studierende, über alles informieren, was Mahler betrifft. In der Förderung von Mahlers Werk, in der Dokumentation und dem Abschluß der kritischen Gesamtausgabe sieht die Mahler-Gesellschaft ihre einzigen Aufgaben. Nicht in gesellschaftlicher Repräsentanz und Publicity. Hier herrscht ein von Mahler und Schönberg vorgelebter spartanischer Stil: Seit Gründung der Gesellschaft vor 17 Jahren hat es weder einen Empfang noch einen Festakt, weder eine Pressekonferenz noch ein Rundfunkinterview gegeben, obwohl die Zahl der Mitglieder in aller Welt inzwischen auf mehr als 500 angewachsen ist. Aber hier, im Zentrum, ist man unter sich und bleibt gern im kleinsten, bescheidensten Rahmen: einmal jährlich findet eine Mitgliederversammlung statt, die Vorstandsmitglieder treffen sich gelegentlich, und in Konzertpausen oder im Cafe wird das Wichtigste besprochen.

Von den Mahler-Dirigenten Ist einer besonders hervorzuheben: Leonard Bernstein. Ihm hat die Gustav-Mahler-Gesellschaft ihre goldene Medaille verliehen, denn er war es, der den eigentlichen „Durchbruch“ bewirkt hat: bei einem großen, nach hunderttausenden zählenden Publikum — und bei der Jugend. Mit den Wiener Philharmonikern hat Bernstein fürs Fernsehen die Symphonien III, IV, V und IX aufgezeichnet. Die übrigen sollen ab 1975 folgen. Hoffentlich auch die einzigartig schönen Lieder! Denn sie sind, sogar in der Heimatstadt des Komponisten, immer noch Stiefkinder der Konzertveranstalter.

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