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Mahler, Kubelik und die Philharmoniker

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In ihrem 6. Abonnementkonzert spielten die Wiener Philharmoniker unter Rafael Kubelik das Concerto grosso g-moll von Händel, die Sinfonietta von J a n ä c e k und Gustav Mahlers 1. Symphonie. — Im vergangenen Jahr wurde die Gründung einer Gustav-Mahler-Ge-scllschaft angekündigt, und wir hoffen sehr, daß diese Aufführung der Ersten nur der Auftakt war zu einem längst fälligen Mahler-Zyklus. Kubelik hat dieses hochoriginelle und ergreifende Jugendwerk eindrucksvoll und richtig interpretiert, besonders gut gelang der gespenstische 3. Satz, der freilich im Programmheft arg mißdeutet wurde. „Ungetrübter Humor hüllt uns ein. Alles vollzieht sich natürlich, man kommt über keine Probleme zum Mach denken.“ Weh dem, der nachdenkt! Dann kommt man nämlich zu einer ganz anderen Interpretation. Wenn man sie nicht selbst finden kann, wende man sich an die prominenten Mahler-Kenner, die es in Wien gibt, oder man suche bei den Toten Rat, zum Beispiel in dem Mahler-Buch von Richard Specht (Neue Auflage von 191s), wo auf 30 Seiten eine erschöpfende und eindringende Deutung der 1. Symphonie gegeben ist. Den irreführenden Untertitel „Titan“ hat Mahler später (wie alle übrigen Titel und programmatischen Deutungen) gestrichen und widerrufen. Gemeint ist nämlich nicht „Der Titan“, sondern Jean Pauls „Kardinalroman Titan“. (Uebrigens fand die Uraufführung nicht im Juni 1894 in Weimar, sondern im Winter 1889 in Budapest statt.)

Das sei nicht so ganz nebenbei bemerkt, denn Mahler, der der heutigen Jugend so gut wie unbekannt ist, bedarf der richtigen Interpretation. Darüber wird eine künftige Mahler-Gesellschaft zu wachen haben .. . Erfreulich war auch die Wiederbegegnung mit Leo Janäceks aus fünf Charakterstücken bestehender „Sinfonietta“. Kubelik schätzen wir vor allem “als Interpreten slawischer Musik. Merkwürdigerweise geriet ihm das originelle Werk — mit dem Geschmetter von 14 Trompeten im ersten und letzten Satz — weniger eindrucksvoll als Keil-berth mit den Symphonikern vor einem Jahr. Ein wenig matt klang auch das Concerto grosso von Händel. Hier jedenfalls scheint es uns mißlich, den gewaltigen Schatten Furtwänglers zu beschwören. Mat tut weder dem Dirigenten noch dem Orchester einen Dienst damit.

Mit einem reizvollen und interessanten Programm stellte sich der aus Mitgliedern des Singvereines gebildete „Philharmonia Kammerchor“ vor, der bereits bei den Festspielen in Perugia ausgezeichnet worden ist: vier- bis sechsstimmige Chansons von Claude D e b u s s y, Maurice Ravel, Francis P o u 1 e n c und Paul Hindemiths sehr kultivierte und harmonisch aparte Klangzauberstücke, die so farbig und nuanciert dargeboten wurden, wie man es sich nur wünschen kann In Hindemiths ,,Six Chansons“ nach französischen Gedichten R. M. Rilkes konstatiert man, ein wenig amüsiert, daß der Komponist das französische Idiom besser beherrscht als der einfühlsamste aller Dichter: s-.-ine Chorsätze sind von denen der Franzosen nicht zu unterscheiden. — In den Liedern Mendelssohns steckt noch — oder schon? — ziemlich viel Liedertafelei, dagegen erfreuten und interessierten die Gesänge für Frauenchor und die Zigeunerlieder für gemischten Chor von Brahms durch die wohlgeglückte und aparte Mischung des Brahmsischen Dialekts mit dem volkstümlichen bzw. ungarischen. Luise Dreyer-Zeidler (Harfe), Franz Koch und Karl Buchmayer (Horn) und Walter Klien am Klavier vermehrten die Fülle des Wohllauts und verdichteten die echt romantische Stimmung dieser schönen Gesänge. Dem literaturkundigen und tüchtigen Leiter Reinhold S c h m i d gebührt aufrichtiger Dank für dieses originelle Programm und seine technisch brillante Ausführung.

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