6766614-1968_37_13.jpg
Digital In Arbeit

Bernstein und die New Yorker

19451960198020002020

Die Wiener Konzertsaison wurde — einen Monat vor Beginn der großen Orchester- und Solistenzyklen — mit zwei Konzerten der New Yorker Philharmoniker eröffnet, denen, was Qualität und äußerer Rahmen betrifft, das Prädikat „festlich“ in vollem Umfang zuerkannt werden darf. Für Leonard Bernstein bedeutet diese Europatoumee, in deren Rahmen die beiden Wiener Konzerte stattfanden, zugleich auch den Abschied von dem New Yorker Orchester, zu dessen Leiter er vor genau zehn Jahren berufen wurde.

19451960198020002020

Die Wiener Konzertsaison wurde — einen Monat vor Beginn der großen Orchester- und Solistenzyklen — mit zwei Konzerten der New Yorker Philharmoniker eröffnet, denen, was Qualität und äußerer Rahmen betrifft, das Prädikat „festlich“ in vollem Umfang zuerkannt werden darf. Für Leonard Bernstein bedeutet diese Europatoumee, in deren Rahmen die beiden Wiener Konzerte stattfanden, zugleich auch den Abschied von dem New Yorker Orchester, zu dessen Leiter er vor genau zehn Jahren berufen wurde.

Werbung
Werbung
Werbung

Im Mittelpunkt des 1. Konzerts stand die 1941 vollendete und uraufgeführte 3. Symphonie des amerikanischen Komponisten William Schuman. Mit ihren kontrapunktischen Formen (Passacaglia — Fuge, Choral — Toccata) bezeugt sie nur das handwerkliche Können und die Begabung für den groben Effekt, nicht aber die echte schöpferische Potenz ihres Autors. Das Orchester, das sie fulminant und mit schmetternden Bläsern vortrug, ist das älteste Amerikas und eines der ältesten überhaupt (1842 gegründet). Während Amerika auf dem Gebiet der Reproduktion Bedeutendes geleistet hat, konnte es in diesen letzten 100 Jahren noch keine originären Komponisten von Weltrang hervorbringen (Charles įves ist ein Außenseiter und Gershwin ein Fall für sich). — Das gelehrte und laute Stück von William Schuman war wohl eine Pflichtaufgabe des Orchesters, das vom State Departement der US auf Tournee geschickt wurde. — Die eingangs gespielte Ouvertüre zur „Italienerin in Algier“ von Rossini geriet etwas massiv, aber bei der „Symphonie fantastique“ von Berlioz waren Dirigent und Orchester ganz in ihrem Element. Die fünf romantisch-phantastischen Sätze, illustrativ und exhibitionistisch zugleich, sind auch ein Kompendium der Orchestrationskunst, und die Interpreten ließen es

weder an Intensität noch an Brillanz fehlen. Das geniale 50-Minuten- Werk, von Puristen als ein symphonischer Schinken bezeichnet, verlor alles Dubiose und ist mir noch nie so „kurz“ vorgekommen

Mahlers 5. Symphonie, 1902 am Wörthersee vollendet und zwei Jahre später unter der Leitung des Komponisten in Köln uraufgeführt, bildete den Höhepunkt nicht nur des 2. Konzertes, sondern des ganzen Gastspiels der Amerikaner. Auch ohne Kenntnis des „Programms“ und der außermusikalischen Ideen, die dieses Riesenwerk von einer und einer viertel Stunde Spieldauer inspiriert halben, ist der musikalische Eindruck gewaltig und überwältigend. Es spricht für den Musiker Bernstein und ist für uns hocherfreulich, daß er sich während der letzten Jahre ganz besonders intensiv der Werke Mahlers angenommen hat und diese auch auf Platten aufzeichnen ließ. Überschwängliches Gefühl, kontrollierender Intellekt und eine fast nachtwandlerische Sicherheit in der Beherrschung der technischen Mittel: das hat Bernstein mit Mahler gemeinsam, so sehr er menschlich, psychologisch und als Typus von dem genialen Komponisten sich unterscheiden mag. Aber er besitzt eine natürliche Affinität zu dieser Musik, er liebt sie, erlebt sie

inbrünstig (was zuweilen, äußerlich, den Eindruck des Übertriebenen macht), und er versteht sie großartig darzustellen.

Das Orchester folgt ihm nicht nur willig, sondern auch begeistert, und zeigt im Dienst des großen Werkes, was es kann, wozu es fähig ist. Hatten sich bis Berlioz und in der Schuman- Symphonie die Bläser durch absolute Sicherheit und niederschmetternde Wucht ausgezeichnet, so kamen bei Mahler, vor allem in dem unvergleichlichen Adagietto, die Streicher zum Zug. Ihr Spiel ist von vollendetem Wohllaut, einer Wärme und Intensität, wie man sie selten erlebt. Und so wird in unserer Erinnerung an dieses Gastspiel vor allem das große Adagio, das Mahler bescheiden als „Adagietto — sehr langsam“ bezeichnet hat, eingegraben sein. — Von klassischem Ebenmaß, Wohlklang und nobler Auffassung war die Wiedergabe von Haydns Symphonie A-Dur Nr. 87. So willkommen jedes Werk Joseph Haydns in einem Konzertprogramm ist: man sollte die großen Mahler-Symphonien allein aufs Programm setzen. Die Auffassungsfähigkeit des Publikums wird sonst überfordert. — Der Beifall nach beiden Konzerten erreichte die höchsten bei uns bekannten Stärkegrade.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung