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Renaissance der Programmusik?

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Wer die Vortragsfolgen der Wiener Orchesterkonzerte während der letzten Wochen anschaut, muß den Eindruck haben, daß die symphonische Dichtung und das Tongemälde eine neue Blütezeit erleben. Diese begann vor 120 Jahren, als im Pariser Figaro“ ein ausführlicher Kommentar der von 170 Mann zu exekutierenden .Symphonie Phantastique“ von Hector B e r 1 i o z erschien. Die Aufführung dieses kühnen und neuartigen Werkes gestaltete sich — damals — zu einer Sensation. Heute ist sie es nicht mehr, und wenn ein solches Werk heute geschrieben würde, so wäre der Interpret wahrscheinlich nicht Karajan, sondern Ansermet oder Scherchen ... Es ist immer wieder dasselbe: die Revolutionäre von gestern sind die Klassiker von morgen. Denn als .klassisch“, das heißt für seine Gattung gültig und repräsentativ, empfinden wir diese .Phantastische Symphonie“ durchaus. Davon überzeugte die Wiederbegegnung in der Interpretation durch die Symphoniker unter Karajan. Diese Musik mit ihrer großzügigen al-fresco-Zeichnung ist effektvoll und spröde zugleich. Das bezieht sich auf den Klang, der keineswegs — wie man immer wieder hören und lesen kann — farbig ist. Aber gerade an diesen Widerständen schien sich 'die Phantasie des Dirigenten zu entzünden, der dem schwierigen Detail seine besondere Aufmerksamkeit zuwandte. — Eigentlich hat erst Maurice Ravel durch seine kongeniale, wenn auch keineswegs Mussorgs-kysche Instrumentierimg die zehn Stücke nach Bildern des Architekten Viktor Hartmann, der zum Künstlerfreundeskreis Mussorg s-kys gehörte und 1874 starb, berühmt gemacht. Die genial-frische Eingebung dieser Stücke ist ebenso bewunderungswürdig wie der formale Instinkt des „Autodidakten“. Die Interpretation Karajans, der sich gern an einem Programm entzündet und sogar aus dem satirischen Zwiegespräch des sechsten Stückes ein erregendes Drama machte, ließ keinen Wunsch offen.

Die Musik von Jan S i b e 1 i u s, heute wie vor 20 Jahren umstritten, kann nur mit ihren eigenen Maßstäben gemessen werden und entzieht sich formal-ästhetischer Betrachtung. Auch seine 5. Symphonie, 1914 vollendet und 1919 umgearbeitet, erfordert vorurteilslose Einfühlung in eine fremde Welt. Zu ihr hat Karajan — hierauf wurde wiederholt verwiesen — einen direkten Zugang wie zu gewissen Barbarismen Tschaikowskys. In seiner Darbietung empfindet man keinerlei Längen oder leere Stellen. Die kurzen melodischen Bögen sind bis zum Reißen gespannt, der Stil der Interpretation ist ein äußerstes Espressivo. Daneben gerieten die beiden klassischen Werke des ersten Teiles im dritten Konzert des Karajan-Zyklus zwar sehr vollkommen, aber etwas kühl (Beethovens 2. Symphonie und Mozarts Klavierkonzert C-dur, K. V. 467). Dieser Auffassung hatte sich auch der junge, hochtalentierte Jörg Demus anzupassen, von dem die hübschen und farbigen Kadenzen des Konzerts stammen.

Gleichfalls im Zeichen der Programmusik stand das zweite Konzert des Zyklus Die große Symphonie“ unter der Leitung Paulus van Kempens, des ständigen Leiters des Amsterdamer Concertgebouw-Orchesters. In Tschaikowskys mitreißender Ouvertüre-Phantasie Romeo und Julia“ und in Dvofiks Symphonie „Aus der Neuen Welt“ zeigte sich van Kempen als Liebhaber eines etwas lärmenden Brios, das selbst ein so virtuoses Orchester wie die Wiener Symphoniker — zuweilen nicht ungestraft — an die äußersten Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit trieb. Im mittleren Teil spielte Friedrich Gulda den Klavierpart der virtuos-auf-trumpfenden Burleske“ von Richard Strauß und die etwas verblassenden Nächte in spanischen Gärten“ von Manuel de Falla. Neben der technischen Meisterschaft, die dem jungen Pianisten inzwischen auch in der Neuen Welt bestätigt wurde, “inachte der strahlend-helle, glasklare Ton aufhorchen. Denn es ist ja Immer wieder der Ton, der die Musik macht, und es zeigt sich im Anschlag jenes geheimnisvolle Etwas, in dem wir das Signum einer Persönlichkeit erkennen.

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