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„Vor Tische las man’s anders"

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Zweifellos kann man über den Komponisten Gustav Mahler verschiedener Meinung sein. Anders steht es mit dem Urteil über seine Tätigkeit als Leiter der Wiener Hofoper. Diese Jahre seiner Wirksamkeit gelten in dem Urteil berufener Zeitgenossen als eine der Glanzzeiten dieses kaiserlichen Instituts. „Es war die größte Zeit der Wiener Oper“, urteilte der immer kritische Hermann Bahr. Ein während des Krieges erschienenes Buch über Wiener Musik widersetzte sich diesem einstimmigen Urteil:

„Der aufgeregte, nervöse Fanatismus dieses jüdischen Gehimfanatikers, der im Dunstkreis Wiens etwas unsäglich Fremdes war, hat die Zeitgenossen fasziniert. Tatsächlii wurde durch Mahler die Axt an die Wurzel des prächtigen Hauses gelegt. Die Spitzenleistungen Mahlers waren die rücksichtslosen Ausfälle eines Besessenen, der skrupellos den künstlerischen wie materiellen Fundus des Hauses unterhöhlte. Seine ,prachtvollen Handstreiche’ haben als unorganische Krämpfe eines überspitzten Willenkünstlers nicht aufgebaut, sondern eingerissen. Was zurückblieb, war die Erinnerung an eine wie bengalisches Feuerwerk aufleuchtende Zeit der Kunstekstase und ein so gut wie ruiniertes Haus’ Mahler gab seinem Publikum, was es haben wollte: die Sensation. Um jeden Preis, auch den der frechen K u nstretusehe’ Hier steht der ganze jüdische Mahler vor uns, der Geist, der zersetzen muß, selbst wenn er es anders wollte.“

So las man’s vor dem Essen. Nach dem Essen, als mit der nationalsozialistisch ausgerichteten Kunstbetrachtung nicht mehr Geschäfte zu machen waren, liest man’s anders. Das Buch über die Wiener Musik ist jetzt in zweiter Auflage erschienen. Äußerlich durch bessere Ausstattung verändert, aber noch mehr innerlich umgestaltet. Jetzt steht anstatt der zitierten Stelle zu lesen:

„Der glühende Fanatismus dieses Ungemütlichen, dieses Unkonzilianten, Unverbindlichen, der im Dunstkreis Wiens wie ein erregender Fremdkörper wirkte, hat die Zeitgenossen fasziniert und eingeschüchtert zugleich. Es ist schwer, der künstlerischen und menschlichen Erscheinung Mahlers in gleicher Weise gerecht zu werden’ Allerdings, dieser Rücksichtslose war gegen niemand rücksichtsloser als gegen sich selbst. Wenn Mahler Raubbau an den Kräften des Hauses trieb, dann erst recht an seinen eigenen- So kam es zu jenen künstlerischen Spitzenleistungen, die in der Erinnerung der Zeitgenossen wie ein nicht mehr überbietbarer Gipfel der Kunstekstase nachleuchten."

Der Verfasser jener Wiener Musikgeschichte hat es auffallend eilig gehabt, von seinem vehementen Verdammungsurteil sich Seitwärts zu konzentrieren. Was mag ihn nur dazu in so kurzer Zeit bewogen haben? Es ist das Recht jedes Autors, seine Ansichten zu vertreten. Mit seiner jüngst verwichenen Überzeugung hätte er kein Gericht über sich herausgefordert, außer etwa das des Publikums, das sein hakenkreuzlerisches Buch wahrscheinlich nicht gekauft hätte. Wie läßt Gustav Freytag in seinem Lustspiel „Die Journalisten“ den Schmock sagen? „Ich kann schreiben rechts, ich kann schreiben links — wie’s trefft!" Um Schmock zu sein, bedarf es nicht der „rassischen Versippung“ ‘

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