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Für „Lennie“ bebte die Erde

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Die Erde bebte, die Wände des „Goldenen Saals“ zitterten. Und das „philharmonische“ Publikum war in Aufruhr, und Leonard Bernstein, der Sonntag vormittags im Musikverein Mahlers „Fünfte“ dirigierte, mußte aufhören. Das Konzert drohte fast in einem totalen Chaos zu enden. Erst nach etwa fünf Schreckminuten und allgemeinen Beschwichtigungsmanövern konnte er wieder von vorn beginnen, also wieder mit Mahler, da Brahms' „Tragische Ouvertüre“ aus Irgendwelchen technischen Gründen in letzter Minute vom Programm abgesetzt worden war. Allerdings bescherten Bernstein und die Philharmoniker eine ungewöhnlich spannungsreiche und doch zugleich gelockert wirkende Aufführung dieser 65-Minuten-Symphonie. Es setzt immer wieder in Erstaunen, wie dieser Dirigent sich in Mahlers Ideen hineinlebt, wie er seine ureigensten Emotionen auf die des Komponisten in seinem Werk abzustimmen weiß. Bewundernswert, wie er etwa raffinierte Instrumentationsdetails herauskristallisiert, wie er Bögen ganzer Instrumentalgruppen und solistischer Stimmen verflicht und gegeneinander austariert. Freilich kann er dabei immer auf die herbstlich satte Klangschönheit der Philharmoniker bauen, die zu Mahler immer tiefere Beziehungen gewinnen. Die Streicher — welches Orchester wollte ihnen etwa diesen elegisch-verzichtvollen Ada-gietto-Satz in all seiner Fin-de-siecle-Schönheit, in seiner Samtigkeit nachspielen? Und vielleicht muß ein Dirigent wirklich ein so emotionsreicher Künstler sein wie Bernstein, um diese Symphonie (wie alle anderen Mahlers) so ergreifend nachempfinden zu können.

Wiens Publikum, genauer: die Abonnenten des Musikvereinszyklus „Die Große Symphonie“, haben sich wieder einmal eine Blöße gegeben. So fulminant konnten die Symphoniker unter dem Japaner Seiji Ozawa gar nicht spielen, daß die Zuhörer nicht nach der Pause vor Bor-töks „Konzert für Orchester“ die Flucht ergriffen hätten. Reihenweise gelichtet präsentierte sich das Parkett. Bartöks längst „klassisches“ Meisterwerk der Moderne, in anderen Städten eine Attraktion im Programm, vertreibt hier, in der „Welthauptstadt der Musik“, die Leute, die zwar bereit sind, jedem mondän, aber gefällig drapierten Monstrum (wie Pendereckis „Utren-ja“) und jedem mittelmäßigen Beethoven-Interpreten zuzujubeln; nur bei naturgemäß anspruchsvolleren Meisterwerken kehren sie dann ihr Verständnis hervor. — John Lill spielte den Solopart in Brahms' 2. Klavierkonzert rasant, aber doch etwas zu unverbindlich und auf äußerliche Prachtentfaltung bedacht. Zu Johann Christian Bachs D-Dur-Sinfonia hatte Ozawa nicht sehr intensive Beziehungen, wenngleich das Stück elegant, in den Details sehr behutsam musiziert, wirkte.

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