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Ein Phänomen namens Bernstein

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Glänzender als die heuer beinahe salzburgisch schnürlzer- regnete Jahreszeit ist der Carinthische Sommer 1977 ins Kärntnerland gezogen; für Urlauber und Eingeborene scheinen rund 700 Veranstaltungen im Kulturkalender auf. Im Sommer allein. Komödienspiele Porcia in Spittal, das Reinhardt-Seminar mit „Was ihr wollt“ in Friesach, Operetten im Klagenfurter Stadttheater, Konzerte in Millstatt, dazu kleinere Begebnisse allerorts. Eigentlich aus Trutz, oder weil er Unzulängliches beim Musikforum Ossiacher See erkannt hat, zog Professor Helmut Wobisch, der am andern Seeufer som- merfrischelnde Trompetenmentor der Wiener Musikhochschule und weiland Philharmoniker-Geschäftsführer, ein solides, beständigeres Gegenfestival auf. Mit Wilhelm Backhaus und Henryk Szeryng als erste Garanten für ehrliches Beginnen. ln neun Saisonen ist der Carinthische Sommer zum internationalen Ereignis mit konzertanten Erst- und Uraufführungen gewachsen. Kein geringerer als Leonard Bernstein hat die europäische Erstaufführung seiner dritten Symphonie „Kaddish“ nach Villach, nicht etwa nach Salzburg, Wien, Berlin oder London, verlegt.

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Glänzender als die heuer beinahe salzburgisch schnürlzer- regnete Jahreszeit ist der Carinthische Sommer 1977 ins Kärntnerland gezogen; für Urlauber und Eingeborene scheinen rund 700 Veranstaltungen im Kulturkalender auf. Im Sommer allein. Komödienspiele Porcia in Spittal, das Reinhardt-Seminar mit „Was ihr wollt“ in Friesach, Operetten im Klagenfurter Stadttheater, Konzerte in Millstatt, dazu kleinere Begebnisse allerorts. Eigentlich aus Trutz, oder weil er Unzulängliches beim Musikforum Ossiacher See erkannt hat, zog Professor Helmut Wobisch, der am andern Seeufer som- merfrischelnde Trompetenmentor der Wiener Musikhochschule und weiland Philharmoniker-Geschäftsführer, ein solides, beständigeres Gegenfestival auf. Mit Wilhelm Backhaus und Henryk Szeryng als erste Garanten für ehrliches Beginnen. ln neun Saisonen ist der Carinthische Sommer zum internationalen Ereignis mit konzertanten Erst- und Uraufführungen gewachsen. Kein geringerer als Leonard Bernstein hat die europäische Erstaufführung seiner dritten Symphonie „Kaddish“ nach Villach, nicht etwa nach Salzburg, Wien, Berlin oder London, verlegt.

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Rund 60 Einzelveranstaltungen von 30. Juni bis 27. August, der Carinthische Sommer ist die am längsten währende europäische Festspielveranstaltung überhaupt. Sie umspannt neben dem Konzertsektor, der Kirchenoper „Der verlorene Sohn“ seit drei Jahren, dem gesprochenen Wort auch die Sparten Forschung und Lehre. Nicolaus Harnoncourt setzte sein Seminar für vorklassische Musik fort, Marcel Prawy stellte Leonard Bernstein in Leben, Werk und Wort vor, neue Erkenntnisse zeigten sich beim Zweiten Workshop über die physikalischen und neuropsychologischen Grundlagen der Musik, welches Vortragende von Universitäten Österreichs, der BRD, Niederlande, USA, von England, Polen und Schweden in Ossiach versammelte. Dazu sprach Clemens Holzmeister - fortsetzend - über die Aufgaben der Architekten von heute: Ein wichtiges und aktuelles Thema, denn als zweiter Aufführungsort neben der kleinen, heimeligen Ossiacher Stiftskirche füngiert das als Metvr-s zweckhaus konzipierte Kongreßhaus in Vülach - notwendig als größter Saal Kärntens mit etwas über 1000 Sitzen, um den effizientesten Spesenanteü zu decken, ernüchternd der Sichtbeton und die akustischen Probleme, die durch Bernsteins Intervention eine Linderung gefunden haben. „Unglückseliges Rauschkind einer in zweckfremden Modernismen delirierenden Baugesinnung“, nannte der Kulturredakteur der „Kleinen Zeitung Peter Vujica die Halle, Karl Löbl empfindet sie im „Kurier“ in .jeder Hinsicht als Denkmal architektonischer Charmelosigkeit“.

Die Qualität des Dargebotenen läßt über raummäßige Mängel hinwegsehen. Unter der Patronanz des Berliner Oberbürgermeisters stand der erste Zyklus, die Berliner Musiktage - in Kärnten! - mit sieben Abenden. Solisten des Bach-Collegiums Berlin bestritten exzellente Kammermusik. Wiewohl im Programm als Kirchenoper bezeichnet, begnügte man sich in der kleinen Stiftskirche mit einer konzertanten Realisation des Mozart-Oratoriums „La Betulia Liberata“, wozu der mangelnde Erfolg des thematisch identen Vivaldi-Oratoriums „Juditha triumphans“ im Vorjahr geraten haben mag. Gewaltige Impulse bezog das im wesentlichen aus Arienbündeln bestehende Werk (KV 118) aus dem Jahr 1771 von der Dirigentenarbeit des stilkundigen Berliner Kantors und Dozenten Karl Hochreither, der auch einen der eindrucksvollsten Orgelabende bestritt. Nikita Magaloff erlebte man, aber auch bekannte österreichische Künstler wie Wolfgang Schnei- derhan mit Alexander Jenner, Ernst Kovacič und Heinrich Schiff, das Haydn-Trio und das Alban-Berg- Quartett. Walter Weller dirigierte hier und Franz Sonnleitner stellte neben den Goldberg-Variationen auch die erst vor drei Jahren in Straßburg aufgefundenen 14 Kanons über acht Fundamentalnoten der Goldberg-Aria in einer eigenen Orgelfassung vor.

Aus Osteuropa kommende Ensembles und Orchester bestücken immer wieder einen erheblichen Programmteil: Quartettkunst aus Warschau durch das Wilanow-Quartett und die Ungarische Nationalphilharmonie un ter Jänos Ferencsik mit der ungekürzten Faust-Symphonie und dem brillanten Nachwuchspianisten Dezsö Rank als Solisten des A-Dur-Konzer- tes von Liszt.

Den Schwerpunkt setzte natürlich das Erste Europäische Leonard-Bern- stein-Festival, bei welchem leider der Pianist Bernstein infolge familiärer Sorgen und Überarbeitung - er leitete auch die Proben für die in Deutschland stattfindenden Schallplatten- und TV-Aufnahmen mit dem Israel Philharmonie Orchestra und dem Wiener Jeunesse-Chor in Villach - ärztlicherseits das „tacet“ verschrieben erhielt. So fand die Soiree in der Kirche ohne ihn statt, zeigte aber wieder einmal musikalisch den Menschen Bernstein, seine Herzlichkeit und Religiosität in Ausschnitten der überkonfessionellen „Mass“ („Messe“), in Widmungen an seinen Freund Rostropowitsch (Cello-Meditationen aus der „Mass“) und an sonstige Musikfreunde in aphori- jiaavanacqui* . .

stischen „Anniversaries“ zu Geburtstag oder Hochzeit, in der den Haustieren gewidmeten „Musik für Blechbläser“ - in ihrer Art auch ein kleines pädagogisches Werk - und in von Christa Ludwig vorgetragenen Liedern. Weil der Meister nicht erschienen war, wollte Professor Wobisch den halben Eintrittspreis rückerstatten. Nur 22 zogen aber zum Inkasso.

Bleibt der Dirigent und Komponist Bernstein im symphonischen Werk: Es rollte ab wie erwartet. Vital und hart die Chichester-Psalms mit einem verwegen gegen die Akustik ankämpfenden Jeunesse-Chor. Daß Bläser und Schlagzeug des Israelischen Orchesters mehr zu paradieren vermögen als die recht glanzlosen Streicher, zeigte die Jeremias-Symphonie aus dem Jahr 1942, die in den Sätzen „Prophecy, Profanation und Lamentation“ die Zerstörung Jerusalems beschreibt. Reifer entbietet sich die zweite Symphonie „The Age of Anxiety“ nach W. H. Audens Gedicht. Auch sie erweist, daß Bernstein jedes Werk irgendwie fürs Theater schreibt und eine Handlung selbst für symphonische Formen sucht. Autobiographische Züge sind nicht zu verleugnen, erscheinen dem Soloklavier überantwortet: Lukas Foss, Jugendfreund und selbst Komponist und Dirigent, gab dem Werk leger das Flair in seinen Kadenzen und vor allem im hektischen Jazzteil der „Maskerade“. Und der Dirigent Bernstein brachte, gelöst von Alltagssorgen, das, was man von ihm erwartete: Seine mitreißende Vitalität, die sowohl für Publikum als auch Ausführende gleich wirkende Signalisation mit dem unnachahmlichen Mienenspiel und den Sprüngen ins Forte, seine Herzlichkeit im tosenden Beifall. Das Phänomen des Bernstein-Erfolges erklärt sich nicht nur mit dem brillanten Musiker Bernstein, sondern auch mit dem Menschen, der Erfolg und Glück nicht allein zu konsumieren gesonnen ist.

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