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FINNISCHES THEATER - HEUTE

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Helsinki, die Hauptstadt Finnlands, nennt man immer häufiger die „Theaterstadt des Nordens“ wegen ihrer vielen Theater und ihres reichhaltigen, künstlerisch wertvollen Spielplans. Es ist schwierig zu erraten, ob das von den finnischen Theaterfreunden dem ernsten Schauspiel gegenüber erwiesene Interesse von der finnischen Volksnatur herrührt oder vielleicht davon, daß der Lebensstandard Finnlands noch nicht gleich hoch wie in Dänemark, Norwegen und Schweden ist! Tatsache ist jedoch, daß in Helsinki mit seinen 500.000 Einwohnern 13 Berufstheater tätig sind, von denen keines ein Geschäftstheater im angelsächsisch-französischen Stil ist. Die Theater von Helsinki bieten im Verlauf eines Spieljahres ungefähr ein halbes hundert Premieren, darunter zahlreiche vom klassischen Spielplan sowie Proben der gewagten und schwerfaßlichen modernen Dramatik.

“Wenn man Helsinki als eine wirkliche Theaterstadt bezeichnen kann, mag man mit noch größerem Grund Finnland für das „gelobte Land“ des Theaters halten. Betätigen sich doch im ganzen Land mit seinen fünf Millionen Einwohnern 35 vom Staat und von den Städten unterstützte Theater und ungefähr 8000 Theaterklubs der Amateure. Diese Zahl erscheint vielleicht unwahrscheinlich hoch, aber die Theaterkunst nennt man auch in Finnland „die nationale Kunst“ des Landes wegen ihrer Volksgunst,

Finnland hat — wenn wir ehrlich sind — nicht viele international bekannte Komponisten und Musiker hervorgebracht. Spärlich sind auch unsere bekannten Maler und Schriftsteller, aber wir haben Grund, auf unsere Schauspieler und Dramatiker stolz zu sein. Unser fester Glaube ist, daß das Hindernis unserer besten Schauspieler für Weltruhm die nur von wenigen gesprochene und verstandene schwierige finnische Sprache gewesen ist. Theaterkunst ist Kunst des Wortes, und deshalb sind auch die hervorragenden finnischen Schauspieler nur im Heimatland und im besten Fall in den anderen nordischen Ländern bekannt. Unsere Architekten und unsere industriellen Formgeber brauchen keine Sprache, und daher sind auch ihre Arbeiten überall in der Welt bekannt.

In Finnland ist die finnischsprachige Theatertradition erst 100 Jahre alt. Das finnische Theater ist von Anfang an seinem Grundcharakter nach ein Volkstheater gewesen. Die heutige Bühnenkunst ist also nicht eine Fortsetzung des Hoftheaters. Vielleicht kommt es von dem „jugendlichen“ Alter der Tradition her, daß das finnische Theater von heute mutig experimentiert, im Repertoire gibt es sowohl Klassiker als auch neueste absurde und avantgardistische Schauspiele. Das finnische Theater ist im allgemeinen unvoreingenommen und neugierig in Hinsicht auf die neue Dramatik anderer Länder.

Helsinki ist nicht die einzige bedeutende finnische Theaterstadt. In vielen kleineren Städten kann man bessere Vorstellungen als in Helsinki sehen. In Hinsicht auf die Spielplanauswahl ist die Hauptstadt im allgemeinen richtunggebend.

Die ältesten und größten Theater der finnischen Hauptstadt sind Suomen Kansallisteatteri (Finnisches Nationaltheater), Heisingin Kaupunginteatteri (Stadttheater von Helsinki) und Svenska Teatern (Schwedisches Theater), das das älteste der vier schwedischsprachigen Theater des Landes ist. Aus dem Repertoire dieser Theater geht hervor, was für Schauspiele die finnischen Theaterdirektoren im allgemeinen wählen und welche wieder dem Publikum gefallen.

Vor Jahrzehnten wurden die deutschen und österreichischen Klassiker und die beliebten Dramatiker jener Zeit dem finnischen Theaterpublikum bekanntgemacht. Werke von Goethe, Schiller, Kleist, Grillparzer, Wedekind, Schnitzler, Sudermann, Bahr und Hauptmann wurden oft aufgeführt. In den letzten Jahren gab es im Spielplan der finnischen Theater mit Ausnahme der zwei letzten Jahre ziemlich wenig deutschsprachige Dramatik im Vergleich mit angelsächsischen und französischen Schauspielen. „Das heilige Experiment“ von Fritz Hochwälder wurde in den fünfziger Jahren ein bedeutender Erfolg, aber darnach wurde in Finnland kein einziges Werk dieses Schriftstellers aufgeführt. Früher so beliebte und oft aufgeführte deutschsprachige Schriftsteller haben nicht mit gewissen anderen Klassikern konkurrieren können. Shakespeare und Moliere haben ihre Vorzugsstellungen von einem Jahr zum anderen bewahrt und sind in vielen Spieljahren die meistaufgeführten ausländischen Dramatiker gewesen.

Überraschend freilich wurde gerade in den paar letzten Jahren deutschsprachige Dramatik wieder reichlich aufgeführt. Vor einem Jahr wurden Georg Büchners „Dantons Tod“ und „Leonce und Lena“ dank der ausgezeichneten Regie des jungen Ralf Längbacka bedeutende künstlerische Erfolge für das Nationaltheater. Längbacka erwies sich als ein besonders feiner Verwirklicher des totalen Theaterausdrucks als Regisseur von Peter Weiß' Schauspiel „Marat“. Das schwere und viel debattierte Revolutionsschauspiel von Weiß wurde einer der größten Publikumserfolge des Nationaltheaters.

Im Lauf zweier Jahre hat man in Helsinki auch neue deutsche Dokumentardramatik gesehen, auch wenn sie dem finnischen Theaterpublikum irgendwie fremd bleiben muß. In Finnland kennt man ja nicht die Judenfrage, sie hat es ja hier nie gegeben. Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ und Peter Weiß' „Die Ermittlung“ lösten heftige Diskussionen in den Theaterklubs und auch in der Presse aus. „Die Ermittlung“ interessierte jedoch nicht die Allgemeinheit, „Der Stellvertreter“ dagegen wurde mehrere Dutzend Male vor vollen Häusern gegeben. Die vom Regisseur geschickt durchgeführte Verkürzung des Textes war gut gelungen, und in den Hauptrollen des Schauspiels sah man einige der besten Charakterschauspieler des Nationaltheaters „Der Stellvertreter“ wurde im übrigen während desselben Jahres sowohl im Nationaltheater als auch im Schwedischen Theater aufgeführt.

Während des vorigen Spiel Jahres wurden im Nationaltheater nach langer Zeit zwei Schauspiele Goethes aufgeführt Als erste Premiere der Kleinen Bühne sah man „Tasso“ in der Regie von Arvi Kivimaa. Die reinen Linien des hellen

Bühnenbildes unterstützten deutlich die analysierten und fein vorgetragenen Texte der Dichtung, die der große finnische Dichter Eino Leino übertragen hat. Im Frühjahr wurde der erste Teil von Goethes „Faust“ auf der großen Bühne aufgeführt. Goethes monumentale dramatische Dichtung ist zuletzt vor 85 Jahren im Spielplan des Nationaltheaters gewesen. Jetzt hatte das Theater als Regisseur Peter Palitzsch und als Bühnenbildner Hansheinrich Palitzsch aus Deutschland eingeladen. An der Regie beteiligte sich auch der stellvertretende Leiter des Nationaltheaters, Jack Witikka. Für die Proben verwendete man eine längere Zeit als gewöhnlich. Trotzdem wurde „Faust“ kein solcher Publikumserfolg, wie man ihn erhofft hatte.

Den beliebtesten Aufführungen des vergangenen Jahres gehören auf der großen Bühne des Nationaltheaters Arthur Millers „Nach dem Sündenfall“, Lope de Vegas „Der Hund des Gärtners“ sowie zwei finnische Komödien, Inkeri Kil-pinens „Tuntematon potilas“ („Der unbekannte Patient“), eine fröhliche gesellschaftssatirische Farcekomödie, und die Soldatenkomödie „Sotamies Jokisen vihkiloma“ („Heiratsurlaub des Soldaten Jokinen“) des bekannten Romanschriftstellers Veijo Meri.

Arthur Miller kennt man gut in Finnland auf Grund vieler Schauspiele. In Helsinki wurde von seinen Schauspielen unter anderem „Alle meine Söhne“, „Der Tod des Handelsreisenden“ und „Hexenjagd“ aufgeführt. Für die Hauptrollen von Millers Aufsehen hervorgerufenen Monroe-Schauspiels hatte das Nationaltheater in idealer Weise die passenden Schauspieler, Jussi Jurkka (Quentin) und Tea Ista (Maggie). Regisseur Edvin Laine vermied in der Aufführung das Hervorziehen der Sensationsstoffe, und seine Interpretation gelang ihm großartig.

Das finnische Schauspiel kennt man im Ausland sehr wenig, aber im Heimatland haben die finnischen Schauspiele, wenn sie gelungen sind, die allergrößten Publikumserfolge. Der größte Erfolg aller Zeiten eines finnischen Schauspiels war die vor ein paar Jahren uraufgeführte gesellschaftskritische Farcekomödie von Interi Kilpinen „Tuntematon potilas“ („Der unbekannte Patient“), die während zweier Jahre an 30 Theatern zusammen gegen 800mal aufgeführt wurde, allein im Finnischen Nationaltheater 135mal vor ausverkauften Häusern. Die Komödie macht sich über einige demokratische Schwächen lustig: eine Serie tragikomischer Ereignisse ist das Ergebnis im allgemeinen, wenn eine politisch einflußreiche, aber zum Beispiel auf dem Gebiet der Krankenhausverwaltung inkompetente Person an der Durchführung wichtiger Entscheidungen mitbestimmt.

Im vergangenen Winter hat das finnische Theaterpublikum gelacht und beinahe auch geweint über das Erstlingsschauspiel des schon viele gepriesene Romane publizierten Veijo Meri, über die Komödie „Sotamies Jokisen vihkiloma“ („Heiratsurlaub des Soldaten Jokinen“). Der Verfasser führt den vor den Kämpfen an der Front sich geretteten anspruchslosen Soldaten Jokinen in die Heimatfront, wo dieser beim Suchen nach einer Braut die Gedrücktheit der Kriegszeit vom Aspekt der Heimatfront erlebt.

Das neueste finnische Schauspiel vertritt auch in diesem Augenblick die bittere Komödie „Uudenvuodenyöo“ („Neujahrsnacht“) der bekanntesten und gerühmtesten finnischen Lyrikerin Eeva-Liisa Manner, worin sie finnische Gebildete schildert. Die feine Menschenschilderung des Schauspiels und der glänzende Dialog haben große Bewunderung hervorgerufen, und es ist auf der Kleinen Bühne des Nationaltheaters vor vollen Häusern gegangen. Das Erstlingsschauspiel dieser Lyrikerin, „Eros ja Psykhe“ („Eros und Psyche“), erhielt vor einigen Jahren große Anerkennung, und es ist auch außerhalb der Grenzen Finnlands aufgeführt worden, unter anderem in Frankreich. Ihr neuestes Schauspiel „Toukokuun lumi

(„Maischnee“) gewann im Mai vorigen Jahres den großen Schauspielwettbewerb, und man hat es im Herbst auf der Kleinen Bühne des Nationaltheaters gesehen.

Wenn man vom finnischen Schauspiel spricht, sollte man nicht die Komödie „Nummisuutarit“ („Die Heideschuster“) des größten finnischen Schriftstellers Aleksis Kivi vergessen, die schon in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts erschien und zum ständigen Repertoire des Nationaltheaters gehört. Vor ein paar Jahren wurde die Aufführung vollständig erneuert, und darnach haben viele Tausende von Finnen sich das Werk im Nationaltheater angesehen. Leider kann eine derartige Komödie trotz der Genialität des Verfassers und trotz der großen Verdienste des Schauspiels keine „Exportware“ sein. Es ist ebenso schwierig, es in andere Sprachen zu übersetzen wie zum Beispiel Nestroys oder Raimunds Komödien, derentwillen man nach Wien reisen muß, um sie zu sehen.

Der Spielplan der Kleinen Bühne und der kleinsten, dritten Bühne des Nationaltheaters ist in den letzten Jahren besonders interessant gewesen. Als Regisseur hat sich der stellvertretende Direktor des Theaters, Jack Witikka, hervorgetan, zu dessen gepriesenen und großen Beifall errungenen Aufführungen unter anderem gehört haben: Paul Claudels „Mittagswende“, Samuels Becketts „Warten auf Godot“ und „Endspiel“, James Saunders „Next Time 1-11 Sing to You'“, Harold Pinters „Heimkehr“ und Edward Albees „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“. Witikka hat feines Stilgefühl und die Fähigkeit des Verstehens besonders als Interpret der „neuen Welle“ der angelsächsischen Schauspiele und der avantgardistischen Werke gezeigt. Es ist erfreulich gewesen, daß diese Aufführungen auch von seifen des Publikums eine warme Aufnahme gefunden haben.

Das gegenwärtige finnische Theater kann man nicht behandeln, ohne noch zwei Namen zu nennen. Der eine ist Regisseur Professor Eino Kalima, der kürzlich seinen 84. Geburtstag beging, während 33 Jahren als Leiter des Nationaltheaters tätig war, aber fortgesetzt an seinem alten Theater Regie führt. Im vergangenen Winter sah man drei seiner Tschechow-Inszenierungen, die europäische Berühmtheit errungen haben: Den „Kirschgarten“, „Die Möwe“ — die er auch für das Fernsehen eingerichtet hat — und „Onkel Wanja“. Professor Kalima ist besonders für seine Inszenierungen slawischer und französischer Schauspieler bekannt, und in zentralen Frauenrollen hatte er in den letzten 20 Jahren die bewundertste und hervorragendste finnische Schauspielerin Eeva-Kaarina Volanen zu seiner Verfügung, die als vielseitige Charakterschauspielerin während desselben Winters außer ihren anderen Rollen in glänzender Weise Madame Ranjevskaja des „Kirschgartens“, Nina in der „Möwe“ und Sonja in „Onkel Wanja“ verkörperte. Dank ihrer großartigen Yse in „Mittagswende“ wurde auch Claudels besonders schwieriges Schauspiel ein Publikumserfolg. — Die Schauspieler des Nationaltheaters besuchten während ihres ausländischen Gastierens mit der „Möwe“ unter anderem Paris, Berlin, Lübeck, Moskau und Leningrad, wo das ganze Ensemble, doch besonders Professor Kalima und Frau Volanen, Gegenstand eines stürmischen Feierns wurden.

In Helsinki sieht man auch internationale Theatergastspiele. Das Königliche Theater in Stockholm gastiert oft, und jedes Jahr sieht man Aufführungen der Theater der anderen nordischen Länder in Finnland. In den letzten Jahren haben Helsinki besucht unter anderen die Comedie Francaise (zweimal), das Berliner Ensemble und das Deutsche Theater von Ost-Berlin, das Schiller-Theater von West-Berlin, Deutsches

Schauspielhaus von Hamburg, Theätre National Populair von Paris, das Piccolo-Theater von Mailand, The Royal Shakespeare Company von Stratford, Helen-Hayes-Theater von Nfew York usw. Das Burgtheater hat im Nationaltheater Hofmannsthals „Unbestechlichen“ und zuletzt vor einem Jahr Arthur Schnitzlers „Anatol“ aufgeführt. Finnland und seine Hauptstadt scheinen zwar geographisch an der Peripherie zu hegen, aber die Theaterbeziehungen von Helsinki zu den anderen Theaterzentren und von anderswoher nach Helsinki sind rege und lebhaft

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