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Die Verwaisten

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Die Fahnen der christlichen Arbeiterbewegung wehen noch auf Halbmast. Und sie werden auf Halbmast bleiben müssen — vorläufig. Man kann nicht sagen: „Der König ist tot, es lebe der König!“ Leopold Kunschak, bis zu seinem Lebensende Sinnbild der Erweckung und Verwirklichung christlichen Gedankengutes unter den Arbeitern, hinterläßt weder einen repräsentativen Nachfolger noch ein ausreichend großes Gremium von Nachfolgern.

Es wäre gewissenlos, wollte man sagen, was in den letzten Wochen so oft gedankenlos hergesprochen wurde: Mit Kunschak sei der letzte Mann mit reinen Händen aus der Politik abgegangen. Wer solches behauptet, verleumdet die vielen anständigen, in der Politik aufopfernd tätigen Menschen, sie mögen welche Gesinnung immer haben. Aber Kunschak war der letzte Mensch, der vor aller Welt und insbesondere im Raum der Politik vollendetes, von allen anerkanntes Zeugnis für das Wirken einer christlichen Arbeiterbewegung im klassischen Sinn gab.

Mit seinem Tode wird nun die Krisis dessen, was wir christliche Arbeiterbewegung nennen, offenbar.

Im Unglücksjahr 1933 hatte die christliche Arbeiterbewegung, im politischen wie im vorpolitischen Raum, die Gewalt echten Reformerpathos, ein in die konkrete Wirklichkeit übersetzbares Sozialethos und jenen Pionierglauben, ohne den jede Organisation völlig von Apparaten abhängig wird, schon hinter sich. All das fehlt auch dem, was von der klassischen Arbeiterbewegung in den verschiedensten Formen in unsere Gegenwart herübergerettet werden konnte. Was vor allem fehlt, ist die innige, gleichsam nahtlose Verbindung von katholischer Soziallehre und politisch-sozialer Aktion, die dadurch systemlos wird und auf den jeweils nächsten Wahltermin und die „noch“ gehaltenen Positionen Bedacht nehmen muß, so daß ihre Tätigkeit sich als eine Summe von „Ausgleichen“ darstellt.

Und dann sind da die Führer. An die Stelle des einst um Kunschak gescharten Teams sind heute neben einigen hervorragenden Männern zu einem Teil bloße „Funktionäre getreten, die es wohl verstehen mögen, einen Apparat zu beherrschen, aber nicht die Massen, die sich von ihnen selten angesprochen fühlen, weil sie einfach nicht als ausreichend repräsentativ angesehen werden. Das, was heute an christlicher Arbeiterbewegung da ist, besteht zudem in der K e r n-schichte als Interessenvertretung von nichtmarxistischen Beamten des öffentlichen Dienstes (insbesondere der von der OeVP verwalteten Dienststellen), die oft nur bis zur letztmöglichen Beförderung oder sogar lediglich bis zur Pragmatisierung aktiv bleiben.

Im Hinblick auf die Ohnmacht der Arbeiterbewegung ist eine soziale Aktion lediglich in jenen Bereichen möglich, die von links und rechts gutmütig geradezu als Reservatgebietc zugewiesen sind. Man komme jetzt nicht etwa mit dem Wohnungseigentum. Was wäre ohne die einmaligen Chancen der Proporzvcrwal-tung aus dem großen und echten sozial-reformatorischen Gedanken des Wohnungs-eigentums geworden? Aber raumgreifende, die Interessen der großen Unternehmer und der großen Bauern berührende Reformen im Sinne eines echten Lastenausgleichcs und einer Neuverteilung des Sozialproduktes konnten nicht durchgeführt werden.

Auch im innerkatholischen Bereich fehlt weitab der große soziale Impuls, es sei denn, man sieht schon in der heillosen Intellektuali-sierung der sozialen Diskussion eine soziale Aktion.

Man kann also sagen, daß eine Bewegung der christlichen Werktätigen (der Arbeiter, kleinen Angestellten und der Kleinstgewerbetreibenden) als massierte Standesbewegung heute so gut wie nicht existiert. Wir stehen jetzt da, wo man 1891 gestanden ist: am Anfang.

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