Dämme gegen Entgrenzung

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In fast 600 Konzernen europaweit gibt es internationale Arbeitnehmergremien. Wie funktioniert die Vernetzung von Arbeitnehmern über Grenzen hinweg?

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In fast 600 Konzernen europaweit gibt es internationale Arbeitnehmergremien. Wie funktioniert die Vernetzung von Arbeitnehmern über Grenzen hinweg?

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Unübersehbar hat das Projekt zur Schaffung eines europäischen Binnenmarktes seit Ende der 80er Jahre einen tiefgreifenden wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozess eingeleitet, der zu einer bislang in Europa nicht gekannte Dynamik von Unternehmenszusammenschlüssen, grenzüberschreitenden Fusionen, Übernahmen und Joint-Ventures geführt hat.

Die europäischen Unternehmen haben sich umfassend auf die geänderten Rahmenbedingungen in einem gemeinsamen Markt eingestellt und die Restrukturierung ihrer Produktions- und Vertriebsstrukturen eingeleitet. So erleichterte etwa die Ökonomisierung des Transports aber auch die Dynamik bei Information und Kommunikation den Konzernleitungen die Ausnutzung weltweiter Arbeitskostenunterschiede. Die Produktion wird vielfach nicht mehr national, sondern europa- und weltweit abgewickelt. Standortfragen und damit die zunehmende Verlagerung unternehmenstrategischer Entscheidungen auf transnational ausgerichtete Konzernzentralen stellten in diesem Zusammenhang eine Entwicklung dar, die auch die Gewerkschaften massiv herausforderte.

Denn Grundsatzentscheidungen über wirtschaftliche Entwicklungen, wie Investitionsflüsse, Produktionskapazitäten, Arbeitsorganisation sowie Absatz- und Standortplatzierungen werden zunehmend nicht mehr dort getroffen, wo die weitgehend national geregelten Mitwirkungsrechte der Beschäftigten und ihrer gewerkschaftlichen Vertretungen greifen. Für immer mehr Betriebsräte und Gewerkschaftsvertretungen stellte sich damit das Problem, vor Ort erschwert oder kaum Zugang zur strategischen Informationen des Konzernes zu erlangen.

Auch Gewerkschaften internationalisieren Es überrascht daher nicht, dass schon zu Beginn der 70er Jahre in der europäischen Gewerkschaftsbewegung Überlegungen angestellt wurden, der Internationalisierung der Wirtschaft eine ebensolche der Gewerkschaftsarbeit gegenüberzustellen. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung war mit der 1994 erlassenen EU-Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat getan, legitimiert sie doch im EU- und EWR-Raum die Vertretungen der Arbeitnehmer/innen in grenzübergreifend tätigen Konzernen als Gesprächspartner des zentralen Managements. Erstmals wurden Beschäftigte multinationaler Konzernen damit in die Lage versetzt, transnational über wesentliche Kennzahlen des Unternehmens informiert und zu bestimmten Entwicklungen konsultiert zu werden.

Innerhalb von zwei Jahren wurden entsprechende nationale Arbeitsverfassungen erlassen, um für alle gemeinschaftsweit tätigen Unternehmen und Unternehmensgruppen mit insgesamt mehr als 1.000 Beschäftigten und mindestens 150 Beschäftigten in zwei oder mehr Mitgliedstaaten eine Vereinbarung zur grenzübergreifenden Information und Anhörung der Arbeitnehmervertretungen abzuschließen. Mehr als 1.700 in Europa operierende Konzerne sind davon betroffen, etwa 40 haben ihren Stammsitz in Österreich.

Zwar orientiert sich der Europäischen Betriebsrat an nationalen Modellen der betrieblichen Interessenvertretung, dennoch entspricht das darin verfasste Verfahren - vor allem was die Kompetenzen betrifft - nicht dem Organ des Betriebsrats, wie es etwa in der österreichischen Arbeitsverfassung geregelt ist.

Die Arbeit Europäischer Betriebsräte stützt sich auf die Säulen der Information und Konsultation zu folgenden Themen: * die Struktur des Unternehmens und seine wirtschaftliche und finanzielle Situation; * die voraussichtliche Entwicklung der Geschäfts-, Produktions-, sowie der Absatz- und Beschäftigungslage; * die Investitionspläne sowie grundlegende Änderungen der Organisation, inklusive Einführung neuer Arbeits- und Fertigungstechniken; * Produktionsverlagerungen, Fusionen, Verkleinerungen oder Schließungen von Unternehmen oder Betrieben, * sowie Massenentlassungen, beziehungsweise -kündigungen.

Information des Europäischen Betriebsrates bedeutet die Berichterstattung seitens des Managements über die aktuelle Situation des Unternehmens und eine Vorschau auf seine künftige Entwicklung in einem festzulegenden Rahmen und Verfahren. Information bedeutet natürlich auch, den Austausch von Informationen zwischen den Arbeitnehmervertretungen verschiedener Standorte und Länder zu ermöglichen und in die Wege zu leiten.

Konsultation heißt, dass der Europäische Betriebsrat vom Management in Fragen, die für Beschäftigte in mehreren Ländern - in denen der Konzern tätig ist - von Bedeutung sind, gehört werden muss. Die Richtlinie verlangt einen Meinungsaustausch und die Einrichtung eines Dialogs zwischen Arbeitnehmervertretung und Management, wozu in erster Linie auch kontinuierliche Treffen - auch solche der Arbeitnehmervertreter/-innen untereinander - gehören. Für deren Kosten hat die Geschäftsleitung ebenso aufzukommen, wie für alle anderen notwendigen Kosten, die sich aus der grenzübergreifenden Vertretungsarbeit ergeben, insbesondere Reise- und Aufenthalts- sowie Dolmetsch- und Übersetzungskosten.

Gegen konzerninterne Standortpoker Aus Gewerkschaftssicht wurde mit der Möglichkeit zur Etablierung Europäischer Betriebsräte ein erster wichtiger Schritt gesetzt, um den zu beobachtenden konzerninternen Standortpoker nicht zu einer Einbahnstraße zu Ungunsten der Beschäftigten werden zu lassen. Dies umso mehr, als der verschärfte Wettbewerbsdruck auf die Unternehmen sich auch in einer härter werdenden Konkurrenz der einzelnen Standorte innerhalb eines Unternehmens widerspiegelt: Nur allzuoft nutzt das Konzernmanagement die Situation aus und spielt die Belegschaften der einzelnen Standorte gegeneinander aus, um ihnen Zugeständnisse hinsichtlich der Arbeits- und Entgeltbedingungen abzuringen.

So sind etwa von der Unternehmensleitung vorgelegte Produktivitätsvergleiche als Begründung für Arbeitszeitverlängerungen und Einsparungsmaßnahmen ohne entsprechende wechselseitige Information unter den Belegschaften in- und ausländischer Tochtergesellschaften nur schwer überprüfbar. Information als Mittel, das wechselseitige Ausspielen hintanzuhalten, ist daher die elementare Voraussetzung für die Wirksamkeit grenzübergreifender Belegschaftsvertretung.

Obgleich die Standortkonkurrenz sicherlich vom Europäischen Betriebsrat nicht gelöst werden kann, sind ihm doch Möglichkeiten gegeben, im Fall funktionierender, auf Vertrauen basierender Arbeitsstrukturen, diese ein Stück weit zu entschärfen. So sollte ein supranational agierender Europäischer Betriebsrat in der Lage sein, Fehlinformationen des Managements über andere Standorte zu überprüfen, eine gemeinsame Position und Vorgehenssweise bei konzernweiten Restrukturierungsmaßnahmen zu entwickeln und im Idealfall gemeinsam an alternativen Konzepten für eine vom Standpunkt der Gesamtbelegschaft gesehenen ausgeglichenen Entwicklung des Unternehmens mitzuarbeiten.

Die Bedeutung der EU-Richtlinie kann in diesem Zusammenhang gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, stellt sie doch erst die institutionelle Grundlage für grenzübergreifende Kooperation dar. Eine Kooperation, die mehrerer Voraussetzungen bedarf. Das zeigen empirische Analysen zur praktischen Arbeit der bislang in etwa 600 Konzernen etablierten Europäischen Betriebsräte. Zu diesen Voraussetzungen zählt in erster Linie der Aufbau eines Klimas des Vertrauens, das es erst erlaubt, Vorurteile ab- und die Grundlagen gemeinsamer Problemlösung aufzubauen. Dafür braucht es Zeit. Jeder Europäische Betriebsrat findet sich in einer mehrjährigen Experimentier- und Lernphase wieder, in die der Aufbau einer Infrastruktur zur Organisation der Arbeit ebenso zählt wie Schritte zur Professionalisierung der Arbeit.

Für viele Gewerkschafter(innen) beginnt mit der Etablierung eines Europäischen Betriebsrates ein völlig neues Kapitel ihrer Arbeit. Gefragt sind Zusammenarbeit, Bereitschaft zur Anerkennung von zunächst ungewohnten Strukturen der Interessenvertretung in anderen Ländern und das gemeinsame Engagement zum Aufbau eines europäischen gewerkschaftlichen Netzwerkes.

Wie europäische Rechte durchsetzen?

Doch Vernetzung kann defizitäre rechtliche Bestimmungen nicht ersetzen. Eine nicht geringe Anzahl von Unternehmensleitungen demonstriert nachhaltig, trotz bestehender Verpflichtungen den Geist der EU-Richtlinie nicht gelten lassen zu wollen und insbesondere die festgelegten Informations- und Anhörungsrechte zu übergehen. Nicht zuletzt deshalb wird zur Zeit anhand der Europäischen Betriebsräte eine weit über das europäische Gewerkschaftslager hinausgehende engagierte Diskussion hinsichtlich der Durchsetzungsfähigkeit europäischen Rechtes geführt.

In erster Linie geht es den Gewerkschaften in Europa dabei um Nachbesserungen der EU-Richtlinie selbst, liegen doch mehr als fünf Jahre nach deren Verabschiedung genügend praktische Erfahrungen für eine Überprüfung vor. Die geforderten Änderungen der Richtlinie sollen primär die Schwächen und inkohärente Punkte ausmerzen. So geht es primär darum, die bislang recht eingeschränkten Rechte zur Information und Konsultation sowie ihre Durchsetzungsfähigkeit gegenüber dem Management zu stärken, bis hin zur Einführung von Sanktionsmöglichkeiten bei Nichtbeachtung bestehender Rechte Europäischer Betriebsräte. Darüber hinaus setzen sich europäische Gewerkschaften dafür ein, angesichts der zunehmenden Bedeutung von kleineren grenzübergreifenden Unternehmungen jene in der Richtlinie genannten Beschäftigtenkennzahlen zu überprüfen, die einen Konzern erst euro-betriebsratspflichtig werden lassen.

Die euopäischen Gewerkschaften sind gemeinsam mit den Europäischen Betriebsräten gefordert eine Politik und Strategie zu entwickeln, der Entgrenzung der Konzernpolitiken wirksame Dämme entgegenzusetzen. Die EU-Richtlinie zum Europäischen Betriebsrat aus 1994 war sicherlich ein erster, richtiger Schritt zu mehr Mitbestimmung in Europa. Weitere müssen folgen.

Der Autor ist ÖGB-Koordinator für Europäische Betriebsräte.

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