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"Leistung muss sich wieder lohnen!", lautet die neue Kampfformel. Doch was wirtschaftliche Leistung ist, bestimmt der Markt - und nicht individuelle Anstrengung. Ein Plädoyer für mehr Solidarität.

Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit in hoch entwickelten europäischen Ländern hat einen brutalen Verteilungskampf um die knapp gewordenen Arbeitsplätze ausgelöst. Erwerbstätige werden dazu erpresst, unbezahlte Überstunden und Mehrarbeit zu leisten, Urlaubsansprüche verfallen zu lassen und die Grenzen zwischen Erwerbs- und Privatsphäre aufzuheben. Arbeitslose werden unter dem Verdacht, sie seien nicht arbeitswillig, unter Druck gesetzt, damit sie jede zumutbare Arbeit, auch eine unter Tarif, annehmen - auch und gerade in Deutschland, wo der Abbau von knapp 10.000 Stellen durch den Automobilhersteller General Motors an den Standorten Rüsselsheim, Bochum und Kaiserlautern zusätzlich für Aufregung sorgte.

Politische Entscheidungsträger lassen sich vor den Karren einer öffentlichen Propaganda spannen, die von bürgerlichen Eliten angeheizt und von der Wirtschaft finanziert wird. Diese predigen das Ende der Spaßgesellschaft und des kollektiven Freizeitparks, in dem sich die arbeitende Bevölkerung bequem eingerichtet habe. Angesichts einer globalen Leistungskonkurrenz müssten das arbeitsfreie Wochenende, die komfortablen Urlaubsansprüche und zahlreiche Feiertage vorurteilsfrei überprüft werden.

"Unmoderne" Gerechtigkeit

"Leistung muss sich wieder lohnen!" Diese Kampfformel soll in erster Linie die tatsächliche Verteilung der Einkommen und Vermögen, die in der Nachkriegszeit durch die weitgehende Zustimmung zu flächendeckenden Tarifverträgen und zur sozialstaatlichen Umverteilung relativ ausgewogen blieb, in Frage stellen. Angeblich ökonomische Argumente stehen dabei im Vordergrund. Eigeninteressierte Individualisten würden, so heißt es, auf die wirtschaftlichen Anreize des Einkommens und Vermögens positiv reagieren, indem sie ihre natürlichen Talente und Leistungsreserven mobilisieren. Dies sei für die Einzelnen vorteilhaft und für die Gesellschaft nützlich. So würden sich gleichzeitig das Niveau des Volkseinkommens und der Verteilungsspielraum ausweiten. Je gespreizter die Verteilung der Einkommen und der Vermögen in einer Gesellschaft ausfalle, umso berechtigter sei die Erwartung, dass die wirtschaftliche Wachstumsrate und der Beschäftigungsgrad steigen.

Diese bekenntnishafte, empirisch nicht bestätigte Argumentation wird durch eine politische Gerechtigkeitsdebatte aufgeladen. Die herkömmlichen Begriffe der Gerechtigkeit seien nicht mehr zeitgemäß, sie müssten durch einen modernen Begriff der Gerechtigkeit ersetzt werden, der den Herausforderungen der Globalisierung, des demografischen Wandels und der technischen Revolution angepasst sei. An die Stelle der Verteilungsgerechtigkeit, die auf die Umverteilung materieller Güter durch den Sozialstaat fixiert sei, müsse die Leistungs- und Marktgerechtigkeit treten. Denn sie könnte die unterschiedlichen natürlichen Talente und die abweichende Leistungsbereitschaft der Individuen besser berücksichtigen. Wenn diese die Begabungen, über die sie verfügen, aktivieren, die Leistungsreserven, die sie haben, freisetzen und sich außergewöhnlich anstrengen, dann verdienen sie es, von der Gesellschaft durch überdurchschnittliche Einkommen belohnt zu werden. Folglich ist es gerecht, dass die Gesellschaft den Individuen den Beitrag zurückgibt, den sie von ihnen empfangen hat. Dies sei ein Gebot der Gerechtigkeit, nämlich der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung im Tausch.

Leider wird der Begriff der wirtschaftlichen Leistung extrem diffus und inflationär verwendet. Er klingt nur scheinbar so präzise wie die physikalisch-technischen Begriffe etwa der Arbeit, die als "Kraft mal Weg", und der Leistung, die als "Arbeit pro Zeiteinheit" definiert ist. So ist es kein Zufall, dass sich der Leistungsbegriff, der die politische Öffentlichkeit beherrscht, wie ein fundamentalistisches Glaubensbekenntnis anhört. Individuell erbrachte wirtschaftliche Leistungen wirken im Unterschied zu früheren Formen der Unterscheidung wie die Zugehörigkeit zu einer Schicht oder Familie zweifellos egalitär, also sozial ausgleichend - aber sie schließen auch aus. So fallen Kinder, alte Leute und Kranke aus den Märkten, auf denen sich diejenigen behaupten können, die über eine angemessene Kaufkraft oder Arbeitskraft verfügen, heraus. Aber selbst auf den Märkten ist eine präzise Erfassung individueller Leistungen und deren adäquate Entlohnung kaum einlösbar. Denn wirtschaftliche Leistung wird nicht danach definiert, ob dringende Bedürfnisse befriedigt werden oder ob eine außergewöhnliche Anstrengung erbracht wurde, sondern vielmehr durch die kaufkräftige Nachfrage. So wird ein Bauer in Kolumbien eher Orchideen züchten, die nach Europa geflogen werden, als Mais, der seine Landsleute in der Stadt sättigt.

Wirtschaftliche Leistung ist auch nicht mit der Arbeitsanstrengung gleichzusetzen. Der Bauer in Kolumbien strengt sich nicht weniger an als der Autolackierer in Rüsselsheim; die Frau in Offenbach, die drei Kinder erzieht, ist am Abend nicht weniger erschöpft als ihr Mann, der als leitender Angestellter in einer Druckerei beschäftigt ist. Während die Anstrengung der Frau überhaupt nicht mit einem Geldeinkommen belohnt wird, finden die Männer in Rüsselsheim, Offenbach und Kolumbien ihre vermutlich gleiche Anstrengung sehr unterschiedlich entgolten. Was wirtschaftliche Leistung ist, bestimmt der Markt, ob nämlich das produzierte Angebot eine kaufkräftige Nachfrage findet oder nicht. Die vorhandene Kaufkraft kann zwar durch individuelle Leistung erworben, aber auch von der Zugehörigkeit zu einer wohlhabenden Familie, der Erbfolge oder der Zugehörigkeit zu einer reichen Gesellschaft abhängig sein, die über das technische Wissen, das Kapital und eine produktive Arbeitsorganisation verfügt.

Individuelle Leistungsbeiträge sind in einem arbeitsteiligen Produktionsprozess überhaupt nicht eindeutig zurechenbar. Welcher Anteil am Verkaufspreis eines Autos oder einer Schlafzimmereinrichtung dem Konstrukteur, der Designerin, der Sekretärin, dem Bandarbeiter und der Verkäuferin zusteht, wird auch durch eine analytische Erfassung, die einen Arbeitsablauf in Teilelemente zerlegt, nicht beantwortet. Diese verschiebt die Bewertung nur von der gesamten Arbeitsleistung auf deren Komponenten, etwa körperliche und nervliche Belastung, Verantwortungsgrad, Arbeitsumfeld (schlechte Luft, Lärm), außergewöhnliche Arbeitszeiten, nachgewiesene Qualifikationen, ohne das Problem der Gewichtung zu lösen. Wie die vom Markt bewertete Gesamtleistung unter die Leistungsträger aufgeteilt werden soll, bleibt weithin eine Frage des Ermessens, sexistischer Rollenmuster sowie der wirtschaftlichen und politischen Macht.

Leistung - kein privates Gut

Die individuelle wirtschaftliche Leistung wird oft als das Ergebnis der eigenen Begabung oder Energie und infolgedessen als privat verfügbares Gut begriffen. Dabei übersieht man leicht, wie sehr die wirtschaftliche Leistung, die der Einzelne erbringt und für die er entlohnt wird, durch andere Menschen vermittelt wird. Die Zuwendung der Eltern, das Engagement der Erzieherinnen und Lehrer, der Beitrag von Freunden und Freundinnen, die das Individuum eine unverwechselbare Person haben werden lassen, sind ein Bündel gesellschaftlicher Vorleistungen, auf denen das individuelle Leistungsvermögen und die Leistungsbereitschaft aufruhen.

Die Debatte über "Mehr Leistungsgerechtigkeit!" hat also einen blinden Fleck. Sie hat diejenigen im Blick, die über natürliche Talente, hohes Selbstbewusstsein und starken Leistungswillen verfügen. Aber diejenigen, die nicht so komfortabel damit ausgestattet sind, sind angewiesen auf Solidarität - die Solidarität jener, deren Leistung "sich wieder lohnen" soll.

Der Autor ist

Professor für Christliche Gesellschaftsethik an der Phil.-Theol. Hochschule St. Georgen in Frankfurt/M. und Leiter des Oswald von Nell-Breuning-Instituts für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik.

Friedhelm Hengsbach wird bei der

54. Internationalen Pädagogischen Werktagung Salzburg (11. bis 15. Juli, Titel: "Leistung - Lust & Last. Erziehen in einer Wettbewerbsgesellschaft")

den Eröffnungsvortrag halten. Infos: (0662) 8047-7511,www.kirchen.net/pwt

BUCHTIPP:

DAS REFORMSPEKTAKEL.

Warum der menschliche Faktor mehr Respekt verdient.

Von Friedhelm Hengsbach. 2. Aufl.

Herder, Frankfurt/M. 2005. 190 S., brosch., e 9,90. (Herder Spektrum. 5544.)

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