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Digital In Arbeit

Zu alt — zu jung!

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In der Sprechstunde des Fürsorgers mehren sieh die Fälle: Arbeitslose, Notstandsunterstützte, auch Arbeitslose ohne Unterstützung, Stellensuchende aller Art und aller Berufe: „Man nimmt mich nicht, ich habe alles versucht, ich würde jede Stelle annehmen, ich bin zu alt,.“

Däs sägen Fünfzigjährige, aber auch schon Vierzigjährige, für trauet! fängt diesė Ar- bfeitskrisė bereits bei FühfUhddreißig ari. Das Landesarbeitsamt Wien sagt in seiriėrri Jähres- bėričht über das Jahr 1952:

„Die Erfahrung Hat nämlich ergeben, daß die Grenze der amtlichen Vermittlürigsmöglichkeit, soweit es sich nicht um Spezialkräfte handelt, bei männlichen Angestellten zirka mit dem 40. und bei Weiblichen mit dėm 35. Lebensjahr gegeben ist. Aber für die Altersrente sind sie naturgemäß viel zu jungi Sie haben auch auf eine Invalidenrente keinen Anspruch, denn der

Amtsarzt stellt ihre Erwerbsfähigkeit fešt. Ebensowenig kann ihnen die öffentliche Für- sorge einė Dauerunterstützung bewilligen, nut gelegentliche Aushilfen werden ihrifen gegeben. Sie hängen zwischen zwei Existenzperioden im leeren Raum. Und es sind heute schön viele, sehr viele, die dieses Schicksal teilen.

Der oben zitierte Bericht stellt fest: „Von den bei den Arbeitsämtern Vorgemtrkten Angestellten haben aber zirka 64 Prozent der Männer und 50 Prozent der Frauen diese Grenze (der Vermittlungsmögliehkeit, Anm. d; V.) überschritten.“

Das variiėft in dėn Verschiedenen Btäri dien. Mit dem Stichtag Vötn 3L Aügüst 1952 waren an Arbeitssuchenden, deren Aker übet 40 Jahrėri lag, votgėtHėrkt: im GäStgSWetbS 85,2% Männer, 75% Frauen; in den Äfeifli- gungsberufen 75,6% Männer, 72,1% Frauen; bei den Lebensmittelarbeitern 74,3% Männer, 63,8% Frauen; in den kaufmännischen Berufen sind 63,5% der männlichen Arbeitsuchenden von 40 Jahren aufwärts unvermittelt geblieben; in den Bauberufen 63% Männer und 70,9% Frauen.

Man geht den Ursachen nach. Es sind deren mehrere. Im Hintergrund steht immer der Kampf der Generationen um den Arbeitsplatz in einem zu eng gewordenen Wirtschaf tsraum. Für eine ganze Reihe von Verwendungsarten kommt wohl von vornherein der jüngere Angestellte in Betracht. Der Vertreter soll ein elastischer, wendiger Mensch sein, die Verkäuferin soll schon durch ihr Aussehen auf die Kunde wirken. Ueberall dort, wo es um Kundendienst und Kundenwerbung geht, stellt man gerne den jungen Menschen in den Vordergrund (wenngleich die Kunde bei der älteren, reiferen Verkäuferin oft mehr Verständnis und Geduld für ihre Wünsche findet).

Auch in der Werkstättenarbeit ist häufig der Jüngere bevorzugt. Er ist bildsamer als der Aeltere, der auf seine Erfahrung pocht und seine Arbeitsmethoden nicht ändern will. Es fehlen freilich auch nicht Stimmen aus Arbeitgeberkreisen, die gerade diese Erfahrung des Aelteren, seinen größeren Arbeitsernst, seine ausgefeiltere Leistung schätzen.

Neben Solchen eher arbeitstechnischen Ueberlegungen entstehen den älteren Arbeitssuchenden Schwierigkeiten, die aus der Struktur der Kollektivverträge kommen. Diese haben begreiflicherweise den Aufstieg des Arbeitenden nach Verwendungszeit und Berufskönnen zu sichern. Die vertraglich festgelegten Mindestgrundgehälter steigen nach der Zahl der Verwendungsjahre, so z. B. für Angestellte der Industrie von 925 S im ersten und zweiten Verwendungsjahr auf 1150 S im zehnten bei schematischen Arbeiten, von anfänglich 1020 auf 1250 S bei nichtschematischen Arbeiten usw. bis in die Gruppe der selbständigen Arbeiten, deren Entlohnung sich von 1460 S mit der Zahl der Verwendungsjahre auf 1940 S erhöht.

Diese kollektivvertraglich festgelegten Mindestgrundgehälter bzw. -löhne sind ein unabdingbarer Rechtsanspruch des Arbeitnehmers. Weder er noch der Arbeitgeber können davon abgehen. Das führt häufig dazu, daß der ältere Bewerber hinter der verwendungsjüngeren, billigeren Kraft zurückstehen muß.

Auch mit Kurzarbeit, die ja an und für sich nur ein Notbehelf wäre, ist nicht viel zu erreichen, da nur in wenigen Branchen ein Abgehen von der 48-Stunden-Woche gestattet ist.

Nun bliebe der Ausweg, viele ältere Arbeitslose in der Heimarbeit zu beschäftigen. Aber man versteht es, wenn sie ablehnen, sich um Heimarbeit zu bewerben: „Ich kann bei größtem Fleiß nicht das verdienen, was ich an Arbeitslosengeld beziehe.“ — Die Unterstützung wird aber sofort eingestellt, wenn Arbeit, welche immer, vermittelt wird.

Was eine Heimarbeiterin erarbeiten kann, reicht in der Regel nicht über Lohnklasse I (bis 145 S) hinaus. Eine Schneiderin kann in der Woche 88.85 bis 130 S verdienen,, eine Stickerin 73.22 bis 87.29 S, eine Näherin oft nur 58.33 S, eine Handstrickerin 56.61 S, eine Handschuhnetzerin 55.89 S. Man kommt dabei auch für Arbeiten, die viel Geschicklichkeit und größte Genauigkeit der Ausführung verlangen (man denke an die handgestickten Motive auf Damenwäsche!), zu Stundenlöhnen, die jeder gerechten Entlohnung hohnsprechen. Gobelinstickerinnen, die eingearbeitet sind und fast als Kunstgewerb- lerinnen angesehen werden müssen, verdienen in der Stunde 1.50 bis 2 S. In der Hand- häklerei und -Strickerei werden in der Stunde 1.30 bis 2.40 S verdient, in der Netzerei oft nur 1 S pro Stunde. Wohl bestehen auch für die Heimarbeit Lohntarife — nur werden sie nicht eingehalten. Die Rechtlosigkeit der Heimarbeiterin macht diese vogelfrei. Zudem sind die, die zu Hause arbeiten, isoliert. Das öffnet verwerflichem Ausbeutungsverlangen Tür und Tor. Die christliche Sittenlehre nennt die Vorenthaltung des gerechten Lidlohnes eine himmelschreiende Sünde, aber das haben auch solche vergessen, die sich christlich nennen. Es ist hoch an der Zeit, daß die Schutz- und Rechtlosigkeit der Heimarbeit ein Ende findet. Oesterreich hatte ein vorbildliches Heimarbeitsgesetz. Es wurde 1921 unter dem Sozialminister Richard Schmitz geschaffen. Unter dem Trümmerhaufen der Aggression liegt es begraben — bis heute.

Es soll nicht übersehen werden: In der Frage der älteren Arbeitslosen wird sich zweifellos manches zum Guten wenden, wenn der Familienlastenausgleich Tatsache geworden sein wird. Mütter, die heute noch ihren Lohn oder Gehalt dem Unterhaltseinkommen ihrer Familie zubringen müssen, werden dann freiwillig auf den Arbeitsplatz verzichten. Manche Vierzigjährige, selbst Mutter noch unversorgter Kinder, wird mit ihren Existenzsorgen leichter fertig werden. Aber das Problem an sich ist umfänglich groß und inhaltlich kompliziert geworden. Es ist nicht zu erwarten, daß man ihm durch die eine oder die andere Teillösung im Wesen beikommen kann. Eine befriedigende Lösung wird in der Steigerung der Produktivität gesehen und angestrebt werden müssen, die einer fühlbaren Ausweitung auch des Arbeitsvolumens Raum schafft.

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