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Digital In Arbeit

Das Unglück der totalen Freizeit

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155.662 Menschen waren im Jänner bei uns ohne Arbeit. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich innerhalb von drei Monaten verdoppelt. Dahinter stehen Schicksale.

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155.662 Menschen waren im Jänner bei uns ohne Arbeit. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich innerhalb von drei Monaten verdoppelt. Dahinter stehen Schicksale.

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Zum Leben braucht der Mensch Selbstbestätigung, und die findet er in seiner Arbeit. Die wesentliche Änderung des Zeitablaufes in der Arbeitslosigkeit stört neben der finanziellen Einbuße das psychische Befinden des Arbeitslosen am meisten.

„Die Arbeitslosenzeit", so der Sozialforscher Fritz Plasser, „hat ihre besondere Eigenart darin, daß es sich dabei um eine dauernde Warte- oder eigentlich Erwar-tezeit handelt. So ist jeder Tag in der Arbeitslosigkeit ein spannungsgeladener, doch frustrati-onserfüllter Tag."

Professor Müller-Limmeroth, Leiter des Instituts für Arbeitspsychologie an der Technischen Universität München, hat bei Arbeitslosen einen „Streß besonderer Art" konstatiert, der, medizinisch bewertbar, kaum vom herkömmlichen Arbeitsstreß zu unterscheiden ist: Aufhebung des üblichen Ablaufs von Aktivitätsund Ruhezeiten führt zu erheblichen Störungen im Zentralnervensystem, zu Durchblutungsbeschwerden, Magengeschwüren, zu Labilität des Kreislaufes mit Kollapsneigung, zu Verdauungsproblemen, Schlaflosigkeit und Gastritis.

Wer einen Monat arbeitslos ist, gilt als gefährdet, nach vier bis sechswöchiger Arbeitslosigkeit zeigen sich die ersten Anzeichen von Unruhe und Ungeduld. Dann - nach einigen Monaten - verfällt der Arbeitslose in Resignation.

„Wer niemanden den dritten Monat seiner Arbeitslosigkeit überschreiten läßt, hilft am meisten", resümiert Fritz Plasser, Co-Autor einer Studie des Dr. Fes-sel+GfK-Institutes über „Pro-bjemgruppen auf dem Arbeitsmarkt", die Ergebnisse dieser Untersuchung.

Darin wurde die psychische und ökonomische Situation von 170 Arbeitslosen in Wien (sowie in Graz und Linz) analysiert. 36 Prozent der befragten Arbeitslosen waren jünger als 25 Jahre, ein Drittel Frauen, ein Viertel Hilf s-

arbeiter und nur zehn Prozent Facharbeiter.

Im Verdrängungswettbewerb auf dem Arbeitsmarkt wird, wer nichts gelernt hat, schneller arbeitslos und bleibt es auch länger; so ist beispielsweise die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen vor allem ein Ausbildungsproblem.

Bereits im Ubergang von der Ausbildung zur Berufslaufbahn fällt eine Vorentscheidung über das Arbeitsplatzrisiko. Es ist dann ziemlich hoch, wenn Ausbildung und Beruf nicht übereinstimmen. So hatten 44 Prozent der befragten Arbeitslosen zuletzt keine Aufgabe erfüllt, die ihrer ursprünglichen Ausbildung entsprochen hätte.

Trotz zunächst eher passiver Reaktion auf die Kündigung setzen bei den Arbeitslosen rasch intensive Bemühungen zur Wiederbeschäftigung ein, doch der Weg zu einem geeigneten Arbeitsplatz ist meist mit frustrierenden Erlebnissen gepflastert:

Fast die Hälfte der Arbeitslosen beklagt finanziell nicht akzeptable Angebote, jeweils bei jedem fünften Angebot werden entweder zu hohe oder zu geringe Anforderungen gestellt, jedes fünfte Angebot wird abgelehnt, weil der Arbeitsplatz entweder zu weit entfernt oder schlecht erreichbar ist.

Stark gestört wird das psychische Befinden, wenn Angebote wohl entsprochen hätten, dann aber doch nicht zu einer Wiederbeschäftigung führten. Denn dann war die Stelle bereits besetzt (22 Prozent), dann waren die Anforderungen zu hoch (18 Prozent), der Verdienst doch nicht ausreichend (13 Prozent), die Arbeitsverhältnisse schlecht (12 Prozent), oder man wurde wegen zu hohen Alters abgelehnt (8 Prozent).

In dieser Phase der Arbeitsplatzsuche verschärft sich ein psychisch schwer verkraftbarer Entscheidungszwang: Entweder

man akzeptiert einen sozialen Abstieg durch die Annahme eines geringer qualifizierten Postens oder man verbleibt im Arbeitslosenstand bei immer geringer werdenden Aussichten auf eine berufliche Anstellung mit passendem Ausbildungsniveau.

Für jeden dritten Arbeitslosen und vor allem für ältere Arbeitslose ist der Besuch eines Arbeitsamtes besonders deprimierend. Die psychische Streßsituation während der Arbeitslosigkeit steht in einem starken Zusammenhang mit diesem ersten und deprimierenden Arbeitsamterlebnis, führt zur Entmutigung, oft auch zur Verzweiflung. Hauptmotiv dafür ist die Mitteilung, daß es derzeit an einem passenden Stellenangebot mangle.

In der Angst vor wachsenden finanziellen Schwierigkeiten wurzeln die meisten psychischen Belastungen, die bis zum Selbstmord führen können. Speziell Hilfskräfte fürchten finanzielle Probleme, mehr Angst vor einer Bedrohung des Lebensstandards haben Arbeiter, während bei den Angestellten infolge etwas günstigerer finanzieller Voraussetzungen diese Angst zunächst nicht so akut ist.

40 Prozent der befragten Arbeitslosen sprechen sich gegen einen Berufswechsel aus, hauptsächlich deshalb, weü ihnen der jetzige Beruf gefällt und weil es ihnen eigentlich schade um die Fachkenntnisse und um die berufliche Erfahrung wäre.

Insgesamt aber würden die Arbeitslosen einen Berufswechsel noch viel eher akzeptieren als einen Wechsel des Wohnortes.

„Der Berufswechsel", so Fritz Plasser, „würde sich weitgehend in der Sphäre der Berufswelt abspielen, ein Wohnortwechsel aber wäre beinahe ein Wechsel der Identität."

Der Beitrag ist ein Auszug aus der eben veröffentlichten Studie „Armut in Wien" des Karl Lueger-Instituts der Wiener OVP.

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