Marienthal ist überall

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Was Marie Jahoda 1933 erkannte, gilt bis heute: Arbeitslosigkeit vergiftet die Existenz.

Aufstieg und Fall Marienthals, das hieß Aufstieg und Fall einer Fabrik: Die 1830 gegründete Spinnerei wuchs und gedieh, Weberei und Bleiche wurden angegliedert und bescherten den Bewohnern des Dorfes im niederösterreichischen Steinfeld bescheidenen Wohlstand. Selbst der Weltkrieg oder gewerkschaftliche Kämpfe vermochten das industrielle Wachstum nicht zu stoppen. Erst 1925 mehrten sich die Anzeichen des Niedergangs. Es kam zu umfassenden Entlassungen - und 1929 zum endgültigen Zusammenbruch: Große Teile des Betriebs wurden geschlossen. Schlussendlich waren drei Viertel aller Familien durch Arbeitslosigkeit in ihrer materiellen Existenz bedroht.

Marie Jahoda bemerkte, dass die Bedrohung noch viel weiter reichte. Gemeinsam mit Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel unterzog die Wiener Sozialforscherin "Die Arbeitslosen von Marienthal" einer wegweisenden soziografischen Studie und förderte 1933 neue Zusammenhänge zutage: Der Verlust der Arbeit, so Jahoda, würde nicht nur den Verlust der Einkommensquelle bedeuten, sondern auch Orientierungslosigkeit heraufbeschwören, das Selbstwertgefühl zum Schwinden bringen, die Gesundheit schädigen, Krisen in der Familie auslösen und nicht zuletzt die Menschen unfähig machen, mit ihrer Zeit umzugehen. Arbeit hat nicht nur einen "manifesten", sondern auch einen "latenten" Wert, erkannte Jahoda: Sie stiftet Sinn, ermöglicht soziale Beziehungen, sorgt für die Anbindung an kollektive Ziele und strukturiert die Zeit der Menschen. Stattdessen dominiert bei arbeitslosen Menschen Nichtstun den Tagesablauf - vor allem bei Männern. "Die Frauen sind nur verdienstlos, nicht arbeitslos im strengsten Wortsinn geworden. Sie haben den Haushalt zu führen, der ihren Tag ausfüllt", wusste Jahoda aus Marienthal zu berichten.

Doppelte Belastung

Heute, 70 Jahre später, fallen die Befunde zur Situation langzeitarbeitsloser Menschen nicht viel anders aus. "Erwerbslosigkeit hat stets ein doppeltes Gesicht: die wirtschaftliche und die psychische Beeinträchtigung", erklärt Paloma Fernández de la Hoz von der Katholischen Sozialakademie Österreichs. "Arbeitslosigkeit schlägt sich nicht nur auf das Budget einer Familie nieder, sondern auch auf interfamiliäre Beziehungen und den Selbstwert der betroffenen Person." Je länger die Erwerbslosigkeit dauert, desto stärker werden die Probleme, weiß die Sozialwissenschafterin.

Diese Zusammenhänge in der Öffentlichkeit bewusster zu machen, hat sich die Katholische Aktion Österreichs zum Ziel gesetzt. Zahlreiche soziale Einrichtungen wurden aufgefordert, in der Zeit zwischen 1. Mai (Tag der Arbeit) und 15. Mai (Tag der Familie) die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf Beziehungen und Familie zu thematisieren.

Die Auswirkungen von Arbeitslosigkeit auf die Gesundheit sind mittlerweile belegt. Laut einer aktuellen Studie des deutschen Robert Koch-Instituts bezeichnen 23 Prozent der arbeitslosen Männer und Frauen ihren Gesundheitszustand als "weniger gut" oder "schlecht". Unter den Berufstätigen kommen hingegen nur elf Prozent zu dieser Einschätzung. Besonders deutlich sind die Unterschiede bei Männern. Die Ursache dafür sieht das Robert Koch-Institut in ihrer stärker ausgeprägten Erwerbsorientierung.

Der bekannte Wiener Männerforscher Erich Lehner teilt diese Ansicht: "Vor allem traditionelle Männer, die sich als Ernährer der Familie definieren, leiden unter Arbeitslosigkeit." Statt sich an der häuslichen Familienarbeit zu beteiligen, gebärden sich diese Männer oft wie "zusätzliche Gäste". Eine Verhaltensweise, die schon Marie Jahoda festgestellt hat: Knapp die Hälfte der arbeitslosen Männer von Marienthal half nicht ihren Frauen, sondern fand sich lieber am Dorfplatz ein, um mit Geschlechtsgenossen ihre Arbeitslosigkeit zu "zelebrieren".

Keine Trendwende

Wie auch immer Menschen solch belastende Situationen gestalten: An studierbaren Schicksalen mangelt es nicht. Laut Arbeitsmarktservice (AMS) waren Ende April 231.117 Personen auf Arbeitssuche, 20 Prozent davon länger als ein halbes Jahr. Inklusive jener 45.000 Menschen, die sich in Schulungen befinden, standen 276.031 Menschen in der Warteschlange Richtung Job - um 3,64 Prozent mehr als noch im Jahr zuvor. Besonders erschreckend ist die Arbeitslosenrate bei den 19- bis 24-Jährigen: Sie stieg in den letzten zwei Jahren um 38 Prozent.

Wie schnell und tief Menschen in den Teufelskreis der Arbeitslosigkeit geraten, hängt wesentlich von ihrer Ausbildung ab. "Gut qualifizierte Menschen finden meist bald wieder eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Bei schlecht qualifizierten Personen kommt es hingegen leicht zu dauerhafter Erwerbslosigkeit", betont Paloma Fernández de la Hoz. Umso eindringlicher warnt sie - wie jüngst auch die Armutskonferenz - vor einem "Creaming"-Effekt: "Das passiert, wenn sich die Politik nur auf jene Arbeitslosen konzentriert, bei denen eine rasche Integration vermutet wird", erklärt die Expertin. "Während sie wie Schaum abgeschöpft werden, bleibt der Rest am Boden zurück."

Dadurch komme es zu einem dauerhaften Ausschluss eines immer größeren Anteils der erwerbsfähigen Bevölkerung. "Die Hoffnung, dass die Menschen durch Erwerbsarbeit sozial integriert werden könnten, ist also eine Illusion geblieben", zieht Fernández de la Hoz Bilanz. "Letztlich kommen wir um ein Grundeinkommen für alle nicht herum."

Auch Hans Georg Zilian, Projektleiter der Denkwerkstätte Arbeit und Arbeitslosigkeit Graz, die sich von 14. bis 16. Mai den "Insidern und Outsidern" in der Arbeitswelt widmet, teilt ähnlich düstere Zukunftsvisionen: "In der Arbeitswelt von morgen wird es zu heftigen Verteilungskämpfen kommen", prophezeit der Sozialforscher im Furche-Gespräch. Im Kampf um das immer rarere, aber umso begehrtere Gut Erwerbsarbeit würden die "Insider" mit ihrer relativ großen Nähe zu Macht und Firmenleitung klarerweise über die "Outsider", die in wenig geschützten Arbeitsplätzen ihr Dasein fristen, siegen.

Brüchige Beziehungen

Nicht nur das Ende aller Sicherheiten in der Arbeitswelt, auch das Ende aller Sicherheiten im Privatbereich macht diesen "Verlierern der Gesellschaft" zu schaffen, weiß Zilian. "Diese Menschen brauchen konventionelle familiäre Strukturen wesentlich mehr als die Sieger." Nichts bringt freilich familiäre Beziehungen so rasch zum Erodieren wie ein Partner ohne Job. Wird der Betroffene anfangs von der Familie mit sehr viel Anteilnahme bedacht, so schlägt diese Haltung meist nach wenigen Monaten in Schuldzuweisungen um.

Um solche Dynamiken zu durchbrechen, ist nach Meinung der Katholischen Aktion zumindest zweierlei nötig: Arbeitslosigkeit als strukturelles und nicht als individuelles Problem zu betrachten; und angesichts geringer werdender Erwerbsarbeit den Stellenwert der Arbeit insgesamt zu überdenken. Auch wenn nicht mehr ganze Dörfer - wie einst Marienthal - in die Arbeitslosigkeit schlittern: Ihre materiellen und psychischen Folgen sind für jeden einzelnen Betroffenen eine Zumutung.

BUCHTIPP:

DIE ARBEITSLOSEN VON MARIENTHAL. Ein soziographischer Versuch. Von

Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., edition suhrkamp 769, 148

Seiten, TB, e 8,30.

"arbeitsLOS - beziehungsLOS" lautet der Titel einer Tagung des Forums

Beziehung, Ehe und Familie der Katholischen Aktion Österreich, die am Freitag, 16. Mai, von 10 bis 17 Uhr im kardinal-könig-haus, Lainzer Straße 138, 1130 Wien stattfindet. Nähere Infos unter (01) 51552-3690 und www.kaoe.at.

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