"Depression ist die Krankheit von morgen"

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Lange Jahre in psychiatrischen Kliniken ist heute nicht mehr unausweichlich das Los psychisch Kranker. Die Tore der Psychiatrie sind "aufgegangen" - ein Verdienst auch von "pro mente", einer Einrichtung die Begleitung und Ausbildung anbietet. Gespräch mit der Generalsekretärin von "pro mente wien".

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Lange Jahre in psychiatrischen Kliniken ist heute nicht mehr unausweichlich das Los psychisch Kranker. Die Tore der Psychiatrie sind "aufgegangen" - ein Verdienst auch von "pro mente", einer Einrichtung die Begleitung und Ausbildung anbietet. Gespräch mit der Generalsekretärin von "pro mente wien".

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die furche: Seit wenigen Tagen gibt es "pro mente"-Einrichtungen in allen Bundesländern, nachdem sich auch das Burgenland als letztes Bundesland dem Dachverband "pro mente austria" angeschlossen hat. Wofür setzt sich Ihre Einrichtung, wofür setzen Sie sich persönlich ein?

Elisabeth Muschik: Als Staatsbürger dieses Landes müssen wir irgendwann entscheiden, in welcher Welt wir leben wollen. Es geht letztlich darum, dass zu unserer Welt auch die Psychiatrie gehört. Und für sie müssen wir eine Form der Gestaltung finden, mit der wir auch leben wollen. Ich glaube, Ähnliches gilt für alle Bereiche. Ganz besonders notwendig aber ist es für alle Randbereiche der Gesellschaft. Wir müssen uns sehr konkret damit auseinandersetzen, wie mit Schwächen und Handicaps - es gibt sie nun einmal - umgegangen wird. "pro mente wien" hat sich seit der Gründung im Jahre 1965 für diese Anliegen stark gemacht Eines der ersten Ziele bei unserer Arbeit war es daher, Menschen dafür zu gewinnen, dass sie sich für Psychiatrie-Patienten engagieren.

die furche: Wurden früher Psychiatrie-Patienten denn überhaupt gefördert und begleitet?

Muschik: Der erste Patient, den ich seinerzeit von der Psychiatrie übernommen habe, ist dort 30 Jahre hindurch durchgehend stationär betreut worden. Er kam mit 22 in die Psychiatrie und ist dann mit 54 - nach einem Jahr der Betreuung durch uns - "hinausgegangen". Während dieses Jahres hatten wir eine Trainingshilfe installiert und er konnte wieder "bemündigt" werden. Der Mann lebt heute noch!

1965 gab es noch die Entmündigungsordnung. Damals fingen wir damit an, den psychisch Kranken ehrenamtliche Mitarbeiter zur Seite zu stellen, die den Kranken auf seinem Weg zu Gericht oder zu Behörden begleiteten. Durch die Psychiatriereform Ende der Siebziger und in den Achtziger Jahren sind bei uns dann endlich die "Türen aufgegangen" und vieles konnte verändert werden. Die Sachwalterschaft kam. Und dadurch wurde es möglich, recht viele Patienten nicht mehr total zu entmündigen.

Heute haben wir etwa 60 ehrenamtliche Mitarbeiter allein für Wien, die für eine "Eins zu eins"-Begleitung zur Verfügung stehen. Wir stocken derzeit auf 80 Mitarbeiter auf. Es ist also ein großer Aufschwung festzustellen. Darauf bin ich sehr stolz.

die furche: Wie kommen denn ehrenamtliche Mitarbeitern mit ihrer sicher nicht einfachen Tätigkeit zurecht?

Muschik: Es ist ganz wichtig, dass die Diagnose nicht zwischen dem Klienten und seinem Begleiter steht. Natürlich sollen die Begleiter etwas über die Krankheit und ihre Erscheinungsformen wissen, noch wichtiger aber scheint mir, dass der Begleiter sich aufmacht, für sich selbst offen zu sein. Bei uns gab und gibt es von Anfang an Supervision für die ehrenamtlichen Mitarbeiter. Bei der Art von Supervision, die bei uns praktiziert wird, steht das Verhältnis des Begleiters zu seinem Klienten im Vordergrund. Der Begleiter wird mit seinem Verhalten, seinen eigenen Irritationen konfrontiert. Pro mente Wien ist es durch diese Begleitung gelungen, bei den meisten der ehrenamtlich engagierten Leute einen besseren Zugang zum eigenen Selbstwert zu eröffnen. Sobald jemand nämlich seine eigenen Schattenseiten nicht mehr erschreckend findet, gewinnt er Energie dazu. Und dadurch kann der Begleiter anderen viel lockerer und gelassener begegnen. Wir sprechen dann von einem sogenannten "Empowerment", einem Zuwachs an Kraft. Der Ehrenamtliche empfindet sich als "Gleicher", wohl mit einer anderen Zielsetzung oder mit einer anderen Absicht, aber doch gleichwertig in der Achtung vor sich selbst und in der Achtung vor dem anderen. Ich denke, es gibt kein besseres Rezept für dieses zutiefst christliche Anliegen.

die furche: Wer ist überhaupt zu einer solchen Begleitung bereit? Wie rekrutieren Sie Ihre Mitarbeiter?

Muschik: Seit 1967 haben wir jährlich zwei Mal pro Semester einen Volkshochschulkurs laufen, in dem Informationen über soziale Psychiatrie vermittelt werden. Diese Kurse laufen unter dem Titel "Einführung in soziale Psychiatrie" an der Urania und in der Volkshochschule in der Galileigasse im neunten Wiener Gemeindebezirk. Die Referenten kommen aus den verschiedensten Professionen: Ärzte, Pfleger, Sozialarbeiter, Psychologen, Ehrenamtliche und Psychiatrie-Erfahrene. Unter den Hörern dieser Kurse finden sich dann die Interessenten für eine Mitarbeit bei pro mente.

die furche: Konnten Sie beobachten, dass sich an der allgemeinen Einstellung zu Psychiatrie-Patienten in den letzten Jahren etwas geändert hat?

Muschik: Das kann ich nicht mit Sicherheit beantworten. Ich habe aber den Eindruck, dass große Anstrengungen unternommen werden, um an einer Veränderung zu arbeiten. "pro mente austria" wird den weltweiten "Tag der psychischen Gesundheit" am 10. Oktober dieses Jahres aber zum Anlass nehmen um die Arbeit und die Ziele der sozialen Psychiatrie zu thematisieren und für eine Bewusstseinsbildung einzutreten. Die Tagung zum Thema "Soziale Psychiatrie im Kontext" wird am 10. und 11. Oktober im Veranstaltungszentrum Sankt Pölten stattfinden.

die furche: Man hört immer wieder vom Anstieg der psychischen Belastungen. Was erwarten Sie diesbezüglich von der Zukunft?

Muschik: Ich nehme an, dass die Krankheit des 21. Jahrhunderts die Depression sein wird. Verstimmungen dieser Art nehmen sehr stark zu, denn wir haben eine Talfahrt auf dem Arbeitsmarkt hinter uns. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist vor allem für ältere Menschen gleichbedeutend mit einem bedrückenden Gefühl des Nicht-Mehr-Gebrauchtwerdens, des Unnütz-Seins, der Verarmung, der Angst vor Verwahrlosung. In allen Kreisen macht sich Unsicherheit, ein Hinschielen auf die Möglichkeit, dass jedem auch so etwas passieren kann, breit.

Wenn Menschen ab 45, die eine Ausbildung im Hinblick auf einen Lebensarbeitsplatz bekommen haben, schockartig erfahren müssen, dass ihre Treue und ihre Erfahrung nichts mehr zählen, bedeutet das für viele eine große psychische Gefährdung. Die Generation unserer Kinder wird mit diesen Unsicherheiten permanent konfrontiert sein. Das wird, meiner Meinung nach, ein wahrer Schleuderkurs für sie werden. Es hat auch die Brutalität der Arbeitgeber stark zugenommen. Der junge Mann oder die junge Frau werden auf einen vorerst bestimmten Platz gesetzt, ändert sich in der Firma etwas, so werden sie einfach anderswohin geschoben. Wenn es dort nicht geht, dann ist es eben vorbei. Hier ist sehr massiver Stress zu spüren und es entsteht auch viel an Kränkungen und Verletzungen. Die Jungen werden viel an Ermutigung brauchen um sich diesen Veränderungen stellen zu können.

die furche: Wo sehen Sie die Schwerpunkte für Ihre Arbeit bei "pro mente" für die nächsten Jahre?

Muschik: Ich habe im Moment alle Hände voll zu tun, um alles im Gleichgewicht zu halten, denn seit April 2000 haben wir zusätzlich zwei von uns betreute Wohngemeinschaften übernommen. Unser Cafe Max am Stubenring, das 1995 eröffnet wurde, beschäftigt derzeit 18 langzeitarbeitslose psychisch Kranke. Es sind Personen mit den unterschiedlichsten Diagnosen. Um zu vermeiden, dass sie zusätzlich das Makel der Arbeitslosigkeit tragen, arbeiten sie ein Jahr lang auf sogenannten Transitplätzen. Im Max sind sie ein Jahr lang mit kollektivvertraglicher Entlohnung angestellt und bekommen so die Möglichkeit, anschließend wieder ins Arbeitsleben zu finden. Sie erhalten eine Qualifizierung in Küche, Service oder Reinigung unter der Anleitung und Führung sogenannter Schlüsselkräfte. Zusätzlich ist eine Psychologin für 40 Stunden pro Woche hier angestellt. Viele dieser Mitarbeiter des Max sind anschließend in der Lage eine Therapie zu beginnen oder eine Umschulung zu machen, manche nehmen ihre alte Ausbildung wieder auf, einige gehen in die freie Wirtschaft. Hier wird das Modell der sogenannten Laienhilfe in die Praxis umgesetzt.

Die Aufrechterhaltung dieses Modells, unsere Bildungsarbeit, Schulungen, Öffentlichkeitsarbeit und schließlich die bevorstehende Übersiedlung unseres Büros vom Stubenring in ein Haus in der Nähe des Wiener Naschmarkts sind die wichtigsten Schwerpunkte meiner Arbeit im heurigen Jahr.

Das Gespräch führte Angela Thierry.

Zur Person Psychotherapeutin und Geschäftsführerin Elisabeth Muschik ist 1943 in Wien geboren. Nach ihrer Matura war sie Bankangestellte in Wien und wirkte viele Jahre hindurch freiberuflich in der katholischen Erwachsenenbildung mit. Nach einer Ausbildung in Gruppendynamik und Familientherapie, eröffnete sie 1985 eine freie Praxis als Psychotherapeutin in Wien. Sie ist eingetragen in die Liste Psychotherapeutinnen.

Seit 1984 ist sie für "pro mente wien" tätig und seit 1994 ist sie Geschäftsführerin dieser Einrichtung.

Elisabeth Muschik ist verheiratet und Mutter zweier erwachsener Kinder.

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