Der "Fall Fischer", Widerspiegelung unserer Zeit

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Die Vergangenheit von Außenminister Joschka Fischer wirft Fragen auf, die über die moralische Beurteilung hinausgehen.

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Die Vergangenheit von Außenminister Joschka Fischer wirft Fragen auf, die über die moralische Beurteilung hinausgehen.

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Ein paar Kratzer, mehr hat er offensichtlich nicht abbekommen. Joschka Fischer, 52-jähriger Außenminister und Vizekanzler Deutschlands, bleibt einer der populärsten Politiker - obwohl die Bilder von Hass und Gewalt während seiner Frankfurter Zeit als militanter Straßenkämpfer und die Verbindung zum früheren RAF-Terroristen und OPEC-Attentäter Hans-Joachim Klein eine Menge Staub aufgewirbelt haben. Viele Meinungen wurden bei der öffentlichen Beurteilung der Fischer-Biografie abgegeben. Die laufende Diskussion dreht sich jedoch hauptsächlich darum, ob dieser Mann Minister bleiben kann. Das heißt, ob er sich nicht so unmoralisch verhalten hat, dass er zurücktreten müsste (siehe Furche 3, Seite 2).

Doch das ist zu einfach. Es geht im "Fall Fischer" nicht nur um Moral, ganz abgesehen davon, dass in unserer Tradition den Menschen das Recht zum Dazulernen zugebilligt wird. "Ja, ich war militant und in Prügeleien mit Polizisten verwickelt. Aber ich habe mich zum Demokraten gewandelt", hat sich auch der Ex-Sponti resozialisiert gezeigt. Hans Rauscher schrieb dazu im "Standard" unter dem Titel "Streetfighting Man": "Es kann schlechtere Lebenserfahrungen für einen Politiker geben, als jung mit existenziellen Situationen und Versuchungen konfrontiert zu werden und sich am Ende doch für den richtigen Weg zu entscheiden." Das Leben - ein großer Selbstfindungs- und Selbsterkenntnistrip?

Es ist auffallend, wie stark die Wertschätzung für Joschka ist. Grundtenor: Politiker mit so einer krummen Vergangenheit sind uns noch allemal lieber als die anderen, die glattgestriegelten, kreuzbraven Langeweiler. Der hat wenigstens gekämpft für "etwas", für eine gerechtere Welt, gegen die Repressionen des Staates, gegen die Vätergeneration ...

Man hat den Eindruck, dass im Grunde hauptsächlich der Spontaneität und Aufbruchstimmung dieser Zeit nachgetrauert wird. Auch wenn es eine Aufbruchstimmung gegen das Establishment war. (Heute sind die Trauernden selbst Establishment.)

Fischer - ein Symbol für das Begeisterungsdefizit in der Gesellschaft? Für alternative Politikwünsche?

Heute haben wir keine Militanz mehr wie damals. Gott sei Dank. Aber was sonst? Spaß und Zerstreuung. Kommt nichts mehr? War's das schon? Lässt diese Vorstellung manche so stark in Fischer-Nostalgie verfallen? Aus der Politik, aus den Institutionen ist der zündende Geist längst verschwunden. Nirgendwo ein Lodern. Keine Verheißung. Irgendwie scheint es, als ob die Frage nach den "Verhältnissen" bedeutungslos sei.

Die heutige junge Generation wächst zum Großteil mut- und orientierungslos auf, passiv, selbstbezogen. An wem soll sie sich auch reiben? Wir alle, nicht nur die Jungen, haben heute alle Hände voll zu tun, uns durch den Alltagsmüll von Kitsch und Trivialität hindurchzuwühlen, das Wichtigste für sich herauszufiltern und den Rest einfach zu ignorieren. Spaß, Ironie, Zynismus - das sind heute die Grundhaltungen zur Bewältigung des Lebens. Ein gut gelauntes Sich-hinweg-Setzen über den Ernst des Lebens, der gar nicht mehr richtig erfasst werden kann. "Du musst selber sehen, wie du zurechtkommst." Kaum ein Satz fällt häufiger im Gespräch mit jungen Leuten.

Diskurs und Debatten wären angesichts einer komplexen Welt anstrengend. "Erlebnisse" zu konsumieren ist schon einfacher. Auf der Strecke geblieben ist das Fragen, das Denken in Alternativen. Wo sind die relevanten, einander konkurrierenden Strömungen im Umgang mit der Modernisierung und den Folgen? Ist jemand in Sicht, der eine Massenbewegung gegen den ausufernden Kapitalismus mit all seinen Problemen und Gefährlichkeiten sammeln kann? Die kühlen Rechner, die (Geschäfte-)Macher, die Profiteure, die Euphorischen haben das Sagen. Viele "Nachdenkliche" melden sich zwar in den Medien immer wieder zu Wort. Das viele Nachdenken macht die Gedanken jedoch immer blässer. Gesagt wird oft nur mehr, was ohnehin längst bekannt ist ...

Die Vergangenheit soll ruhen, heißt es oft. Manchmal bringt die Konfrontation mit der Vergangenheit aber eine Wahrnehmung für die Gegenwart. So wie jetzt. Im Zuge der ganzen Diskussion um Joschka Fischer ist etwas aufgetaucht, was über die moralische Frage hinausgeht. Der Politiker Fischer ist nämlich im Grunde nur eine Widerspiegelung unserer Zeit. Er hat sich verändert. Aber auch der Zeitgeist und die reale Lage der Politik sind neu: In den sechziger Jahren waren ungeheuer viele wache junge Leute in Europa davon überzeugt, Gesellschaft und Politik ihrer Zeit seien illegitim (oder "Scheiße" im damaligen Jargon). Viele glaubten, das Sys-tem sei schon keine wirkliche Demokratie mehr, es würde sich auf eine Art Faschismus zubewegen. Man muss allerdings hinzufügen, dass die aufmüpfigen Studenten und die RAF nicht dasselbe waren. Die Spontis, zu denen Fischer zählte, waren weder bloße Demonstranten noch bewusste Terroristen, sondern junge Leute mit einer total ausgeflippten demokratischen Vernunft. Es ist heute schwer verständlich, dass sie demonstrative Gewaltaktionen schon für ernst zunehmende Politik hielten. Die wirklichen RAF-Leute hatten einen strategischen Kriegsplan, systematisch durchdacht. Die Spontis hingegen waren extrem unreif, verhaftet dem binären Denken: Freund-Feind, schwarz-weiß. Daraus ergibt sich aber ein Umkehrschluss: Es wäre fast mit Sicherheit vorherzusagen gewesen, dass viele nicht auf diesem Trip bleiben würden. Das Potenzial der Wandlung war sehr groß.

Die damalige Zweiteilung der Welt, der Ost-West-Konflikt, die Revolten, die augenscheinliche Not und Ausbeutung in den Entwicklungsländern machten es auch möglich, auf dem Markt der Ideen und Konzepte ganz klare Alternativangebote zu präsentieren. Man konnte sich der einen oder anderen Gruppe anschließen, Dritte-Welt-Läden aufmachen ... Was ist heute? Der Kommunismus ist zusammengebrochen, die Amerikaner sind die einzige verbliebene Supermacht. Aufregung gab es zwar noch, als Francis Fukuyama "Das Ende der Geschichte" im Zeichen des weltweiten liberalen Kapitalismus verkündete, oder Sam Huntington die Epoche der neuen Religionskriege proklamierte. Die Diskussion darüber ist ein Intellektuellengeschäft geblieben. Was kriegen hingegen die Normalbürger von der großen Politik angeboten? Nirgendwo das Funkeln einer neuen Idee. Krampfhaft versuchen die Parteien allerorts, etwas zu finden, wodurch sie sich wenigstens ein biss-chen voneinander unterscheiden können. "Politik ohne Projekte" - Jürgen Habermas hat vor einigen Jahren diesen Begriff geprägt, als über "die neue Unübersichtlichkeit" diskutiert wurde. Es stimmt: Politische Entscheidungen drehen sich nur mehr darum, welche Miene zu dem Spiel gemacht wird, das sowieso gespielt wird. Zustimmung, aber mit sorgenvollen Gesichtern oder Zustimmung mit der pathetischen Erklärung, hier werde im Dienste der Menschlichkeit operiert? Joschka Fischer hat das beim NATO-Einsatz der Deutschen im Kosovo vorexerziert.

Irgendwie hat man den Eindruck, für die Politik lohnt es sich gar nicht mehr, angesichts der Vielfalt von Herausforderungen und der Massivität des gegenseitigen Drucks nach neuen Ideen zu suchen. Alles scheint sich sowieso zu vollstrecken, irgendwie und unaufhaltsam. Kommt niemand auf die Idee, dass angesichts der Lage heute oder morgen junge Menschen wieder einmal meinen, die "Verhältnisse" sind doch eigentlich trostlos, wir dürfen uns nicht länger unterwerfen. Ob es dann gescheitere Konzepte und Strategien gibt als die der damaligen Spontis mit Joschka Fischer? Im besten Fall werden die zukünftigen Revolutionäre nicht zum Polizistenprügeln aufrufen, sondern dazu, dem "System" einfach die Loyalität aufzukündigen.

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