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Wer Wien verläßt, hat Wien verloren...?

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Zur Zeit der römischen Kaiser rekrutierte sich die Mannschaft der Legionen längst schon nicht mehr nur aus Römern, sondern zu allermeist schon aus den Angehörigen der Völker, zu deren Beherrschung die einzelnen Legionen in die Gebiete der betreffenden Völker verlegt worden waren. Auf alle Fälle bestand jedoch zur Zeit Christi die in Caesarea stationierte Legion, über welche Pilatus zu gebieten hatte, samt der nach Jerusalem dislozierten Kohorte nicht aus Juden, sondern aus Syrern, denn die Juden wollten dem fremden Gottkaiser partout nicht dienen. Das Ganze erinnert, in etwa, an die Geschichte, in der ein Jude bei der Musterung, natürlich noch zur Zeit der Monarchie, seine Religion nicht angeben wollte, bis der Vorsitzende der Musterungskommission ausrief: „Warum wollen Sie denn nicht zugeben, daß Sie Jude sind? Die Juden waren oft unsere besten Soldaten!“ — „Aber schwer zu bekommen“, wandte der Gute ein.

Kurzum, bereits im Altertum hatten Syrer und Juden wenig oder nichts füreinander übrig, was vor allem schon daraus hervorgeht, daß sich die Legionäre des Pilatus, als ihnen der göttliche Mittler zum Zwecke der Kreuzigung überantwortet worden war, nicht mit der Hinrichtung selbst begnügten, sondern den Herrn auch noch geißelten, mit Dornen krönten und vor ihm auf die Knie fielen, indem sie höhnisch ausriefen: „Sei gegrüßt, König der Juden!“ Ist es da zu verwundern, daß auch heute noch, nach zweitausend Jahren, die zwar nicht göttlichen, aber immerhin von den besten Absichten erfüllten Mittler Kissinger und Kreisky keinen leichten Stand haben, weil während ihrer Vermittlungsversuche die Artillerie der Syrer schießt, als ob überhaupt nicht verhandelt würde? Ja, in den eigenen Ländern der Unterhändler geht es womöglich noch uneiniger zu als auf den Golan-Höhen: Dem amerikanischen Außenminister fallen die eigenen Parlamentarier in den Rücken, und während der österreichische Kanzler an der Spitze einer internationalen Delegation von elf Sozialisten wie vor der Schar der elf übriggebliebenen Friedensboten unseres Herrn das Einvernehmen in Nahost wiederherzustellen sucht, überrascht ihn die Nachricht, daß nicht nur in Niederösterreich, sondern auch in Vorarlberg die Landtagswahlen vorverlegt werden sollen, womit wohl auch des Kanzlers eigene Amtsperiode kürzer werden könnte, als er etwa vermutet.

Wie seltsam sind doch immer wieder die historischen Parallelen, ja fast möchte man sie geradezu vorausberechenbar nennen, denn die Sage weiß zu berichten, daß auch Pilatus wenige Tage nach der Kreuzigung nach Rom zurückbeordert worden sei, um dort vor Vitellius dem Jüngeren Rechenschaft über seine Amtszeit abzulegen; und wer vermochte zu ahnen, welche politische Situation der Kanzler in Österreich vorfinden wird, sobald er zurückkehrt — auch wenn die Kenntnis von den bezüglichen Gärungen noch wochenlang unter der Oberfläche verborgen bleiben sollte...?

Es geht natürlich nicht an, vorauszusetzen, daß der römische Senat auf einmal von der Vorstellung ergriffen worden sei, der Statthalter von Judäa habe einen Gott hinrichten lassen und müsse deshalb, zur Verantwortung gezo-'gerf werden.'Derlei fromme Vorstellungen sind ebenso unhaltbar wie die Meinung, Vergil habe in seiner berühmten Vierten Ekloge die Geburt Christi vorausgesagt. Weder Pilatus, mögen gewisse östliche Kirchen auch den Versuch gemacht haben, ihn zum Heiligen zu erheben, noch Vergil haben die mindeste Ahnung von unserem heutigen Christentum gehabt. Aber gerade dies, daß die handelnden Personen von den Geschicken, in deren Sinn sie handeln, nichts wissen, macht das Schicksal nur noch unbegreiflicher und unheimlicher. Nicht Kreisky und Kissinger, nicht Arafat und Dayan wandeln die Welt. Wir leben allesamt in fortwährender Rastlosigkeit, wie man dies etwa auch aus den nicht enden wollenden Reisen der großen politischen Figuren und auch aus der Unrast ebenso belangloser wie harmloser Touristen in ihren Autobussen schließen kann. Nicht sie selber bewegen sich, sie alle werden bewegt. Von wem? Wir wissen's nicht, oder wir sind von der Scheu erfüllt, den Namen dieses Bewegers aller Menschen eitel zu nennen. Eins jedoch ist gewiß: Wenn jemand von irgendwo fortgeht, findet er den Ort, den er verlassen hat, nie mehr ganz so wieder, wie dieser Ort einst gewesen war, und wenn er verreist, kehrt er niemals wieder an genau den Ort zurück, von dem er fort ist. Der Faktor Zeit mischt sich hier in den des Raums und verändert den Raum und sich selbst. So aber ist wohl auch der berühmte Satz zu verstehen, daß, wer Rom verläßt, Rom verloren habe. Doch gilt dies natürlich auch von jeder anderen Stadt und jedem anderen Ort. Warum also nicht auch von Wien?

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