6545128-1947_10_06.jpg
Digital In Arbeit

Der seltsame Baum

Werbung
Werbung
Werbung

Ganz sonderbare Bäume sind es, die dort oben an den Grenzen des Baumwuchses, unbeirrt von dem felsigen Boden und der Ungunst der klimatischen Verhältnisse, ihr Dasein prächtig behaupten — die Zirben, auch Arven genannt. Gerade hier, in der Kampfzone, wo andere'Bäume, tief niedergebeugt, die Widerstrahlung der Bodenwärme auszunützen und dabei mit ihrer Krone noch möglichst viel Sonnenlicht aufzusaugen trachten, gerade hier steht die Zirbe aufrecht und sturmfest und trutzig da wie kein anderer Baum in so hohen Lagen.

Noch haben Lärche und Fichte sie weit herauf begleitet. Nun aber kommen die nicht mehr mit. Es sind nur noch einige, in ihrem Wachstum längst zurückgebliebene Lärchen, die sich da und dort noch, den rauhen West- und Nordweststürmen zum

Trotz, bis in Höhen von fast 2000 Meter hinaufkämpfen. Dann aber sind die Zirben allein. In tieferen Lagen haben sie noch ihren „Jugendtypus“, ihre gleichmäßige Form, ihren regelmäßigen Wuchs. Aber dort oben, in der Kampfzone, dort erkennt man sie oft kaum mehr, dort stehen plötzlich Kronleuchtergestalten, die auch Zirben sein sollen. Es sind bisweilen verzerrte Formen von Bäumen, die wir da antreffen, vom Blitz sdion oft heimgesucht und geschwärzt. Sie sind tot und leben doch noch, irgendein kleiner grüner Ast bezeugt es.

Die Zirbe ist uns treueste Begleiterin in den Urgesteinsalpen, dort fühlt sie sich am wohlsten und zeigt ihr herrlichstes Gedeihen, ihre üppigsten Formen. Schon am Zirbitzkogel in der Steiermark, der von altersher mit Zirben bestockt ist und von ihnen seinen Namen trägt, tritt sie reich und fruchtend auf, auch in Kärnten, in der Gegend des Eisenhuts und der Turracher-höhe. Und wer einmal durch das Stubbachtal gewandert ist, dem wird der „Wiegenwald“ mit seinen reinen Zirbenbeständen in unvergeßlicher Erinnerung bleiben. Wir finden die Zirbe in vielen Tälern Tirols, in prächtigen Jungwüchsen am Oberlauf des Inns, auf den Hochalmen um Kühtai — und in der Schweiz. Besonders im Engadin und in den Walliser Tälern zeigt sie üppigste Bestände und steigt dort noch höher als in unseren Alpen, so im Wald von Tamangur öderem Val Scarl, wo sie noch in der Höhe von 2430 Meter angetroffen wurde.

In dieser Höhe verläßt sie uns. Aber außer diesem europäischen Verbreitungsgebiet vornehmlich in den Schweizer und österreichischen Zentralalpen treffen wir die Zirbe nochmals: Mehr als 2000 Kilometer entfernt, weit hinter dem Ural, tritt sie wieder auf, bedeutender noch in ihrem Wuchs, größer in ihren Früchten. Pinus cembra, die „sibirische Zeder“. Sie bildet am Amur und in den Schluditen des Chin-gan ausgedehnte Reinbestände. Zwar nimmt sie bloß 6 Prozent der Waldfläche Rußlands ein, etwa 28 Millionen Hektar. Dies aber entspricht fast der doppelten Waldfläche Österreichs und Deutschlands zusammengenommen.

Daß die Zirben besondere Bäume sind, dessen ist sich der Älpler wohlbewußt. Er weiß aber auch, daß weder der Pflanzer noch seine Kinder die Zeit der Schlägerung erleben werden. Und er schützt heute die Zirbe dort oben an der Waldgrenze, weil auch sie seine Hütte schützt ... wenn die Lawine donnert.

Immer wieder, wenn im Herbst auf den Bäumen die stahlblauen Zapfen reifen, hält mit viel Spektakel, Geschrei und Gequatsche ein Gast, der Zirberihäher oder „Zirm-gratsch“, wie ihn die Älpler nennen, seinen unwillkommenen Einzug. Plötzlich ist er da. Zunächst treibt er sich noch in den untersten Regionen umher, wo die Zapfen eben zu reifen beginnen. Denn auch er liebt die schmackhaften Nüsse, die sie bergen, genau so wie die Älplerbuben, die ihm deshalb spinnefeind sind. Und dann wandern die „Silbergratschen“ mit der Samenreife hinauf, immer höher und höher, und sie lassen den Buben oftmals nicht ein einziges Zirbelnüssel übrig.

Aber dieser Zirbenhäher ist gar kein so nichtsnutziger Vogel. Wenn sein Kröpfchen gefüllt ist, dann vergräbt er seinen Uberschuß irgendwo auf einer Wiese,-und manche Nuß geht auch auf seinen vielen kleinen Reisen verloren. Und dann wächst plötzlich eine kleine Zirbel dort aus dem Boden, wo sonst nie eine'gewachsen wäre. „So macht er sich ja doch wieder nützlich“, sagen nun manche Forstleute und nennen ihn einen Waldgärtner und Kulturvogel. Die Bergler aher hassen ihn, wenn sie manchmal zu Weihnachten kein Schüsselchen voller Zirm-nüsse zusammenbringen, die sie auch „Zirschen“ nennen, oder auch „Zirmele“ (im Zillertal) oder „Betschle“ (im Etschtal). Manchmal heißen die Nüsse, aber auch der ganze Baum „Tschurtschn“, und davon dürften die Tschurtschentaler, ein in Kärnten weitverbreitetes Geschlecht, zu ihrem Namen gekommen sein. Schon ihr Gehalt an öl (30 bis 35 Teile), aber audi der besondere Wohlgeschmack machen die Nüsse so begehrt. Nicht selten haben aber unvernünftige Sennen, um der Zapfen habhaft zu werden, die herrlichsten Stämme gefällt und dann nutzlos liegen gelassen. Das Zirm-nüssel ist auch zum Gegenstand mannigfacher Volksbräuche geworden. So muß in der Sdiweiz vielerorts, besonders in Bergün, beim „Spusabend“ vor der Hochzeit, wenn die Braut die jungen Mädchen des Ortes zu einem Trunk einlädt, der Bräutigam einen Platzregen von Zirbelnüsselschalen über sich ergehen lassen. In unseren Alpentälern gibt es ein beliebtes Schnadahüpfel: „Mei Schatzerl is wia a Zirblnüssel, und wann i s' büß, so lacht s' a bissei.“

Da das Zirbenholz bedeutend leichter ist als fast alle anderen Holzarten, überdies sehr formbeständig und von wohlriechendem Harz durchtränkt ist, das den Duft des Alpenwaldes auszuströmen scheint, benutzte man es seit langer Zeit gerne zu mannig- . fachen Tischlerarbeiren. Man brachte es bis nach Italien, wo es besonders in der Mailänder Gegend und in Florenz als Möbelholz hoch im Preise stand und als Zierholz wegen seines Astreichtums sehr geschätzt wurde. In alten Montafoner Bauernhäuern merkt man bald an den Wandvertäfelungen, an den Wäscheschränken und besonders nett gearbeiteten Zirbeltruhen sowie an den zirbe-nen Milchgeschirren und geschnitzten Herrgottskreuzen, daß man hier in einem Gebiete mit reichem Zirbenvorkommen weilt. In

Tirol werden auch Bienenhäuser vielfach aus diesem Holz hergestellt, die für die Uberwinterung der Bienen bedeutend gesünder sein sollen als andere.

Leider vergriff sich im vorigen Jahrhundert der Mensch unvernünftig an der Vegetation des Hochgebirges, betrieb Holzfrevel und Raubwirtschaft und brannte vielfach auch die Zirben und Lärchen an der obersten Waldgrenze nieder, um sein Weideareal zu vergrößern. Man dachte nicht daran, daß dadurch Besri'nde vernichtet wurden, die zu ihrem Wachstum in dieser Zone Jahrhunderte benötigt hatten und den Naturschutz der tiefergelegenen Waldzonen bildeten. 1871 wendeten sich Sektionen des Alpenvereins gegen die furchtbaren Waldvernachlässigungen und Waldverwüstungen in Tirol. Einer dieser Aufrufe gipfelte in den Worten: „Heißt das nicht unsere Kinder enterben?“ In der Tat findet man heute im gewissen obersten Kampfgürtel nur mehr einzelne gebleichte Stöcke, die letzten Zeugen dieser einstigen Vergewaltigung.

Die Zirbe hat viel von ihrem Reich eingebüßt. Aber noch ist sie Königin des Hochgebirges. Hinauf in ihre sturmumbrausten Höhen sei sie gegrüßt.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung