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Der Negus

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Wenn die Donau Eis treibt, gibt es für die Buben der oberen Donaulände kein größeres Vergnügen, als nach der Schule am Ufer zu stehen und gespannt das Spiel der Eisschollen zu beobachten. Schiebt sich eine Eisscholle nahe genug ans Ufer heran, so gilt es als besonders mutig, auf sie zu springen und sich ein Stück stromabwärts treiben zu lassen. Das Wagnis erfordert einige Geschicklichkeit, vor allem muß der kühne Flößer trachten, in Sprungweite am Ufer zu bleiben, um sich nötigenfalls retten zu können, wenn er das Gleichgewicht verlieren sollte, oder wenn das eisige Schiff zu bersten anfängt. Doch versucht jeder, diesen Abstand zu vergrößern, wenn er schnell und schneidig fahren möchte. Am Ufer dreht und staut sich das Eis, Weiden sind im Weg, das Wasser ist dort meist seicht, und nicht zuletzt steigt die Bewunderung der am Ufer Stehenden mit dem Maß der zunehmenden Geschwindigkeit seiner Fahrt.

Einmal sprang der Negus. Mit dem wirklichen Negus hatte er nur den Namen gemeinsam, der ihm aus weiß Gott welchen Gründen einmal gegeben worden war und ihm noch bis lang nach der Schulzeit blieb. Der Negus war ein kleiner, gedrungener Kerl, dessen Schädel jahraus, jahrein kahl geschoren würde. Er sagte, das sei ungeheuer praktisch, und wir beneideten ihn fast, weil er sich nie kämmen mußte. Nur die Gymnasiasten, die unsere Feinde waren, spotteten seiner. Sie fuhren sich mit der Hand über den Kopf, als ob sie eine Haarschneidmaschine bedienten, und deuteten auf ihn, der dann rot anlief und wie ein Berserker gegen seine Spötter sprang. Er war frech für sechs von unserer Güte, und Glück fiel ihm bei jedem Unglück zu. Als wir uns im Herbst bei einem Bauern Äpfel vom Baum holen wollten, und der mit seinem kalbsgroßen Hund auf uns zu kam, vermochten alle die Flucht zu ergreifen bis auf den Negus, der in den Ästen hängenblieb. Ob der Hosenträger die Schuld und ihn trug, wie es nachher der Negus behauptete, steht nicht fest. Es kann auch sein, daß er hoffte, Bauer und Hund würden hinter uns her laufen, indes er sich weiter an den Früchten gütlich tun könne ... Der Bauer aber dachte wahrscheinlich, besser den Spatzen in der Hand als die Raben hinter der Hecke, und hetzte den Hund zum Baum. Der Negus muß heiße Angst ausgestanden haben, wir sahen schwarz für ihn, weil sein Hinterteil verdächtig nah über dem geifernden Maul des Tieres hing. Aber es kam anders. Der Negus kam mit einem brechenden Ast und rücklings herunter, geradewegs dem Kalbshund ins Rückgrat gestürzt. Der Hund war auf der Stelle tot, und der Bauer verlor darüber den Kopf, so daß unser Negus eilends davonrennen konnte, verblüfft ob seiner Rettung.

In einem Winter also sprang der Negus auf das Eis. Ein mächtiger Block war knirschend und knisternd uferwärts gedreht worden und schob sich mit schleifendem Geräusch an uns vorbei, bläulichweiß glitzerte die riesige Scholle in den schmutzigen Wellen. Mit der mußte man geraume Zeit fahren können, bis sie zu bersten begann. Der Negus schwang sich mit dem für dieses Geschäft unentbehrlichen langen Stock auf die Scholle und stieß vom Ufer ab. Wir heulten vor Begeisterung, denn von den Gymnasiasten hatte keiner sich zu springen getsaut. Sie standen abseits und schwiegen. Den Negus trieb es flott voran, er steuerte waghalsig vom Ufer fort. Wir verstärkten beifällig unser Geschrei. Die Gymnasiasten verfolgten aus angemessener Entfernung die Fahrt. Hin und wieder schaute der Negus zu ihnen und blähte sich vor Stolz. Das sollten sie ihm nur nachmachen, diese feigen Spottdrosseln! Schon überstieg der Abstand zum Ufer längst das Maß eines Sprunges. Niemand achtete darauf, wir waren zu sehr gespannt, ob unser Held noch schneller und wie lang er noch fahren würde. Da griff plötzlich, als hätten wir alle im selben Augenblick daran gedacht, eine Angst um sich, und einer flüsterte, gleich darauf schrien es alle: Die Fähre!

Von unserem Stand stromabwärts eine Viertelstunde weit entfernt führt eine Fähre über den Fluß, deren Seil im Winter durchhängt und fast das Wasser streift. Noch nie hatte jemand auf einer Eisscholle diese Stelle erreicht, weil die halbe Strecke stets genügte, mit dem Eisfloß irgendwo in ein Hindernis des Ufers zu geraten und landen zu müssen. Der Negus aber fuhr pfeilschnell darauf zu. Negus, brüllten wir und hielten die Hände wie Trichter vor den Mund. Negus I Wir winkten und deuteten und brüllten. Er schien es als Beifall aufzufassen und stolzierte auf dem Eis herum als wäre das eine Kommandobrücke und nicht gefrorenes Wasser. Er stand mit dem Blick gegen die Fahrtrichtung, gab mit seinem Stock Signale und spottete seiner Spötter, die ihm durch kein Zeichen die Gefahr verrieten. Schon tauchte das Seil der Fähre auf. Unser Gebrüll verstummte jäh. Mit aufgerissenen Augen starrten wir den Negus an, der sich nun herumgedreht hatte und verzweifelt zu rudern begann. Dann hörten wir den Stoß, der Stock flog im Bogen davon, das Wasser spritzte. Der Negus war weg. Als wir ihn wieder erblickten, hing er jämmerlich schreiend am Seil. Da lachten die Gymnasiasten: Der Glatzerte ist ins Wasser g'fallen! Wir kochten vor Wut. Die Niederlage traf auch uns als Freunde des Negus.

Und dazu nach solcher Triumphfahrt! Wir schworen den Spöttern Rache und hätten darüber vergessen, Hilfe zu holen, wäre nicht der Vater eines unserer Feinde mit dem Kahn am Seil entlang zu dem Verunglückten gefahren. Er war der Wirt des Gasthauses „Zur Fähre“.

Wir bildeten neugierig und bestürzt eine Gasse. Wie einen Sack trug er unseren Freund ins Haus. Er trug ihn in die Küche, sperrte die Tür von innen zu und legte ihn auf den Tisch. Dann entkleidete er ihn und rieb ihn kräftig ab. Wir drückten an den Fenstern unsere Nasen platt. Da sahen wir, wie des Wirtes Sohn in die Küche schlich und zum Negus, der eben erst zu blinzeln begann, etwas sagte. Gleichzeitig machte er die bewußte Handbewegung über seinen eigenen Kopf, dabei grinste er so höhnisch, daß wir ihn hätten verhauen mögen. Das aber besorgte schon der .Negus. Wie eine Katze war er emporgeschnellt, kriegte den anderen zu fassen und rollte mit ihm über den Boden. Wir stöhnten voll Anteilnahme. Die beiden balgten sich mächtig. Der Wirt erstarrte zunächst ob solcher Frechheit eines eben vom Tod des Ertrinkens Geretteten, dann packte ihn ein gewaltiger Zorn, er riß die beiden Streithähne auseinander und gab dem Negus eine schallende Ohrfeige. Kurz darauf flog der Negus aus der Tür mit rotem Gesicht, einigen Kratzern auf dem Leib und einem Bündel nasser Kleider unter dem Arm.

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