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Der Hund war ein russisches Windspiel, ein Barsoi. Nur durch ihn bin ich auf den Mann aufmerksam geworden. Freilich war ich anfangs im Zweifel darüber, ob ich es da überhaupt mit einem Bettler zu tun hätte. Er war erst gegen Mittag in der Straße aufgetaucht und hatte einen Platz meinem Fenster gegenüber gewählt, an dem hohen Eisengitter eines schmalen Vorgartens. Vielleicht war er blind, denn er trug eine dunkle Brille. Allerdings konnte man von seiner Haltung und seinem Wesen keine Blindheit der Augen ablesen. Er lehnte an dem hohen Steinsockel des Gitters, leicht vorgeneigt, und hielt mit ausgestrecktem Arme den Hund ganz nahe an sich, indem seine Finger die Haarlocken auf dem Rücken des Tieres verlegen umklammerten.

Nach längerem Beobachten glaubte ich von dem Manne schon mehr zu wissen. Er war gewiß kein gewöhnlicher Bettler, er sah eher wie ein Herr aus, trotz der abgetragenen Kleider. In der Tat bettelte er die Vorübergehenden auch nicht an; nur den Hut hatte er wie von ungefähr mit der Höhlung nach oben neben sich auf den Steinsockel gelegt. Eine halbe Stunde war schon vergangen, und noch niemand hatte ihm ein Almosen in den Hut geworfen. Beim flüchtigen Anschauen dachte wahrscheinlich jeder, der Herr mit dem schönen Hund stünde nur zu kurzer Rast da angelehnt.

Ich hatte so am Fenster schon ein beträchtliches Stück meiner Arbeitszeit geopfert und wollte mich schließlich genauer überzeugen, was es mit dem Manne für eine Bewandtnis hatte. Ich nahm den Hut und ging auf die Straße. Erst machte ich einen kleinen Umweg, um nicht so geradeaus auf den Fremden loszugehen und um ihn bei unauffälligem Näherkommen noch besser beobachten zu können. Er interessierte mich schon so, daß ich entschlossen war, mich mit ihm in ein Gespräch einzulassen. Seine Gestalt war schlank, ja elegant, und nicht zu verkennen, die eines gewandten Reiters. Offenbar war er ein Kavallerieoffizier gewesen, und nur der schöne Hund mochte ihm von all seinem Besitz geblieben sein, und an den klammerte er sich, als könnte er so die entschwundenen besseren Zeiten noch zurückhalten, als vermöchte er, auf dieses edle Tier gestützt, auch als Bettler noch die ihm ein ganzes Leben lang eignende Haltung bewahren.

Ich zog eine Münze hervor und warf sie so leicht in den Hut, daß es unhörbar war. Aber der Fremde hatte es trotzdem gemerkt und war so eigentümlich zusammengezuckt, als hätte er sich eben vorgestellt, daß man ihm ins Gesicht schlage. Ich sprach ihn doch nicht an, sondern ging leise weiter und auf einem Umweg wieder in meine Wohnung und zu meinem Beobachtungsstand. Ich war gerade zurechtgekommen, daß ich es sehen konnte, wie der Fremde scheu die Münze einsteckte, den Hut aufsetzte und sich dann mit seinem Hund entfernte.

Am nächsten Tag kam der Mann wieder gegen die Mittagsstunde und nahm abermals den gleichen Platz ein. Es gab wieder das gleiche Bild. Der Hut lag neben ihm, und er selbst hielt in der gleichen befangenen Art den Hund an den Rückenhaaren wie gestern. Aber heute blieb der Hund nicht mehr so ruhig; er versuchte wiederholt loszukommen und brachte seinen Herrn in große Unruhe. Eben wollte ich mich vom Fenster entfernen, um hinunterzugehen und diesmal mein Gespräch mit ihm nachzuholen, als sich der Hund plötzlich losgerissen hatte. Er machte einige Sprünge und trabte dann lässig weiter die Straße entlang. Es lag etwas Verächtliches in dem Gehaben des Hundes, als wollte er seinem Herrn selbst die Lehre vermitteln, daß es für sie beide unwürdig wäre dazustehen und zu warten, bis in den Hut einige Almosen fallen würden. Es war sicher kein gutherziger Hund, sonst wäre er bei den ernsten Rufen zurückgekehrt. Denn der Mann rief in einer erschütternden Art nach ihm. Die ersten Rufe klangen nur verhalten, wurden aber rasch lauter und befehlend wie eine Fanfare. „Miro“, rief er, langgezogen und weittragend, wie ein Kommando, das ein ganzes Regiment hätte lenken können. Aber als der Hund doch nicht zurückkam, streckte der Mann die Hände leidvoll aus, und die Rufe wurden immer wehmütiger und verzweifelter. Es hatte sich gleich ein Kreis Neugieriger um ihn gebildet und nun füllte sich der Boden seines Hutes rasch mit verschiedenen Münzen. Der Mann verstummte und machte fassungslos Bewegungen mit seinen Händen, bei denen man nicht genau erkennen konnte, ob sie eine Ablehnung der Almosen bedeuten sollten oder Ratlosigkeit wegen des Verschwindens des Hundes. Ich war von diesem Schauspiel tief ergriffen und sah noch, wie der Mann plötzlich bestürzt den Hut in seine Taschen entleerte und dann wie gebrochen sich davonstahl.

Da lief ich hinunter, denn ich hatte das Gefühl, daß da ein Mensch in äußerste seelische Bedrängnis verfallen war.

Ich erspähte den Mann, als er in eine stille Gasse einbog, und mußte mich sehr beeilen, um ihn nicht zu verlieren. Nun betrug die Entfernung von ihm kaum mehr zehn Schritte, und da tauchte plötzlich sein schöner Hund neben ihm auf. Es gab ein wahrhaft rührendes Wiedersehen. Der Hund sprang an ihm empor, als wollte er seine Verzeihung erflehen, und der Mann sprach laut, ja fast überstürzt zu ihm. Noch war ich weit von den beiden entfernt, und so konnte ich die Worte nicht verstehen, ich erkannte nur, daß er Russisch sprach. Als die zwei den Weg fortsetzten, war ich ihnen schon ganz nahe, und da hörte ich, was er im Gehen noch weiter zu dem Hunde sprach, während er immer wieder seinen Kopf zu streicheln suchte: „Recht hast du, Miro, ich darf nicht betteln. Eine Schande wäre es. Nur nicht den Kopf verlieren. Ich werde eben noch einmal von vorne anfangen. Du bist mein guter Miro, und wir werden Freunde bleiben. Du wirst dich nicht mehr für mich schämen müssen.“ Er hatte wohl angenommen, daß ihn in dieser Stadt niemand verstehen konnte, so sprach er unbekümmert und laut mit seinem Hund. Inzwischen waren wir am Ende der Gasse auf den Kai hinausgekommen, und der Mann mit dem Hunde strebte der nächsten Brücke zu.

Daß er nicht blind war, das hatte ich nunmehr mit Sicherheit festgestellt, aber ich war noch unschlüssig, ob ich ihn nicht doch ansprechen sollte, um zu sehen, ob meine Hilfe hier vonnöten wäre. Sein Gang hatte sich, seitdem der Hund zu ihm zurückgekehrt war, wieder gestrafft, und seine Haltung zeigte neue Zuversicht. Dennoch erschrak ich, als er plötzlich am Geländer der Brücke hielt und auf das Wasser hinunterschaute. Er aber griff nur nach der Brille und mit weitem Ausholen warf er sie von sich und in den Fluß. Ich sah sein Gesicht und erhaschte einen Blick von ihm und erkannte, daß er den Glauben an sich wiedergefunden hatte und entschlossen war, den Daseinskampf wieder aufzunehmen und Sieger zu bleiben.

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