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Wickel

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Doktor Becker erinnerte sich oft daran, daß der Besitz eines Hundes die Sehnsucht seiner Kindheit gewesen war. Aber der Vater, ein Schriftsteller ohne Rang und Namen, der schwer genug das Brot für die Seinen verdiente, empfand jeden überflüssigen Lärm als qualvolle Störuhg, die Mutter brachte es schier ohne Geld mit ihren Zauberhänden fertig, vier Kinder gut zu kleiden und sie zu gesunden, vernünftigen Menschen aufzuziehen, die kleine Wohnung lag im vierten Stockwerk eines Stadthauses, das eher einem Bienenstock als einer Menschenherberge glich — wie wäre es da möglich gewesen, einen Hund zu erwerben, ja auch nur den sehnsüchtigen Wunsch ernstlich zu verfechten?

Aber gerade das Unerfüllbare verankert sich tief und fest im Herzen. Als Schüler, als Student, als junger Arzt, als Gatte trug Becker den Gedanken mit sich, hütete und pflegte ihn wie einen hellen Traum. Merkwürdig, Tausende von Menschen, die Reichsten und die Ärmsten, haben einen Hund als Gefährten, als Wächter oder als lebendes Spielzeug. Gerade den Doktor hinderte ein Umstand nach dem anderen, das heimliche Verlangen seiner Kindheit zu verwirklichen und einen Hund zu erwerben. Erst als er nach den Erfolgen seiner reifen Jahre mit Frau und Kindern in ein Landhaus am Stadtrand übersiedelte, fiel ihm die Erfüllung des alten Wunsches in den Schoß. Ein Landhaus ohne einen aufmerksamen vierbeinigen Wächter war undenkbar. So erschien also der Foxterrier Wichtel.

Beckers Kinder, ein zehnjähriger Junge und ein achtjähriges Mädchen, waren außer sich vor Entzücken über den neuen Hausgenossen. Ihre überschäumende Begeisterung für das possierliche Hündchen ging bald in eine ruhige liebevolle Zärtlichkeit über. Was es an guten Eigenschaften in diesen kleinen Menschen gab, wuchs und gedieh unter dem warmen Lichte der Freundschaft, die sie mit Wichtel verband. Doktor Becker seinerseits hatte gefürchtet, daß sein in Jahrzehnten verklärtes Verlangen nach einem Hunde an der Wirklichkeit eine Enttäuschung erleben würde. Aber nichts dergleichen geschah. Wichtel nahm den Kampf mit Idealgestalten auf, er war ein Hund, den man lieben mußte. Es hieß im Hause Becker nicht mehr „wir vier“, sondern „wir fünf“. Wo immer es anging, war Wichtel dabei, und es gab vor allem keinen Spaziergang und keinen Ausflug, an dem er nicht teilgenommen hätte.

Wie sehr sich auch der Hund seinem Herrn unterordnet und sich den Gepflogenheiten des Menschen mit Treue und gutem Willen anpaßt, lebt in ihm doch stark und unausrottbar der Jagdtrieb seiner Urahnen. Wichtel war wohlerzogen und gehorsam, aber sobald er die Fährte eines Wildes aufnahm, gab es für ihn kein Halten mehr. Die Ohren zurückgelegt, als wollte er sie vor den Rufen seines Herrn verschließen, hetzte er durch Busch und Wald davon.

Von einem dieser verbotenen Raubzüge kam er nicht wieder. Doktor Becker befand sich damals mit den Seinen auf einer Ferienreise weitab von der Heimat. Er unternahm alles Erdenkliche, um seinen Wichtel wiederzubekommen. Die Polizei versprach, ihr Möglichstes zu tun. Doch schließlich mußte man ohne Wichtel nach Hause fahren.

Wenn es für den Doktor einen Lichtblick in seinem ehrlichen Kummer gab, so war es der, daß er von der Treue und Gefühlstiefe seiner Kinder den schönsten Beweis erhielt. Die beiden waren nicht überschwenglich an ihrem Schmerz, aber sie hielten an dem Gedächtnis des verlorenen kleinen Freundes unerschütterlich fest. Sie waren Kinder, gewiß, sie tollten wieder heiter mit Ihresgleichen durch Haus und Garten, sie hatten an diesem und jenem ihre Freude, sie lachten übermütig, wenn es einen Grund dafür gab. Doch blieb in ihrem Herzen der Platz frei, den sich Wichtel erworben hatte. Auch wollten sie keinen neuen Hund im Hause dulden. Manchmal berichteten sie den Eltern, sie seien Wichtel im Traum begegnet, ein Fremder hätte ihn zurückgebracht, Wichtel sei glückselig an ihnen heraufgesprungen, und was es noch an solchen Wunschträumen gab.

Nach einigen Monaten erhielt der Doktor ein Amtsschreiben, worin ihm unter Hinweis auf die seinerzeitige Verlustanzeige mitgeteilt wurde, daß sich in einem Dorfe, nicht weit von dem Orte, an dem sie damals zur Ferienzeit geweilt hatten, ein zugelaufener Hund befinde; die zu Protokoll gegebene Beschreibung passe auf ihn durchaus. Die Nachricht wurde im Hause Becker mit unsagbarer Erregung aufgenommen. Es war selbstverständlich, daß der Doktor, schon den Kindern zuliebe, sich von den Pflichten seines Berufes freimachte und in das bezeichnete Dorf reiste.

Man wies ihn dort an eine alte Frau, die allein ein kleines Haus bewohnte. Ehe sie noch begriff, was der fremde Herr von ihr wünschte, kam der Hund hinter dem Ofen hervor und sprang mir glückseligem Winseln und Gekläff an Becker hinauf. Es war Wichtel.

„Er ist ein so zutrauliches Hündchen“, meinte die Alte ahnungslos „Er weiß gar nicht, daß es nicht bloß gute, sondern auch schlechte Menschen gibt. Immer ist er freundlich und lustig. Und gewiß haben Sie auch einen Hund, nicht wahr?“ Sie wollte mit diesen Worten die Herzlichkeit der Begrüßung erklären. Und dann erzählte sie dem Gaste, daß sie, die Mann und Kinder verloren hätte, kein anderes Glück auf Erden mehr besitze als dieses kleine Wesen. Ein gutes Geschick hätte ihr für ihre letzten Jahre noch die Freude gewährt, etwas Lebendiges, das ihr ans Herz gewachsen sei, zu betreuen und zu umsorgen...

Doktor Becker blieb eine Stunde lang in dem kleinen Hause der alten Frau. Er ließ sich von ihr und ihrem Leben erzählen und liebkoste dabei den Hund. „Ich habe einen Hund verloren, der diesem hier sehr ähnlich sieht“, sagte er, und niemand hätte ihm anmerken können, wie ihm zumute war. „Deshalb bin ich zu Ihnen gekommen. Aber dieser hier ist nicht der meine.“

Seinen Kindern erklärte er, daß er Wichtel nicht gefunden hätte. Nur seiner Frau gestand er, wie sich die Dinge wirklich verhielten und was er getan hatte, Sij nickte ihm zu und strich ihm stumm über die Hand.

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