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Verwirklichte Wirtschaftsdemokratie

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Eine Zeit des politischen Umbruches, wie wir sie 1945 erlebt haben, ist meistens auch von Umwälzungen auf wirtschaftlichem Gebiet begleitet. Die eine Richtung wünschte, daß die bisherige Marktordnung, die Kontingentierung und Bewirtschaftung sobald wie möglich von einem wirtschaftlichen System abgelöst werden müßten, das frei von allen Fesseln und ohne staatliche Bevormundung sich ungehindert sollte entfalten können. Andere wiederum sahen in einer weitgehenden Verstaatlichung der Wirtschaft das alleinige Allheilmittel. Das Bauernland Oberösterreich — diese Charakterisierung besteht deshalb noch zurecht, weil die 205.700 in der Landwirtschaft berufstätigen Personen gegenüber der stark nachrückenden Industrie mit 199.700 Berufstätigen immer noch zahlenmäßig den stärksten Berufsstand des Bundeslandes bilden — ist auf landwirtschaftlichem Gebiet einen dritten Weg gegangen. Es hat dort angeknüpft, wo im Jahre 1938 die Entwicklung gewaltsam unterbrochen worden ist und in einer beispielhaften organisatorischen Arbeit das landwirtschaftliche Genossenschaftswesen wieder aufgebaut, das heute das unentbehrliche Fundament der oberösterreichischen Landwirtschaft ist und Leistungen vollbracht hat, denen auch ausländische Agrarfachleute ihre Anerkennung nicht versagen können.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit auf diesem Gebiet war die Wiederherstellung der demokratischen Grundlagen des Genossenschaftswesens. Ans freien Stücken gegründet, auf freiwilliger Mitgliedschaft eigenständiger Bauern beruhend, lenkt und ordnet die bäuerliche Gemeinschaft ihre wirtschaftlichen Angelegenheiten selbst und ist nur an das Gesetz, aber an keinerlei Weisung von außen gebunden. Mit vollem Recht ist eine Genossenschaft im Sinne Raiffeisens als verwirklichte Demokratie, als wahre Schule demokratischen Denkens und Handelns für die Jugend und als beste Pflegestätte des Gemeinsinns bezeichnet worden. Noch im Herbst 1945 traten die Genossenschafter aller Gemeinden zu Mitgliederversammlungen zusammen, wählten aus ihrer Mitte satzungsgemäß die Funktionäre und bestimmten Delegierte, die auch in den Verbänden die demokratische Ordnung wieder herstellen sollten.

Der Dachorganisation des Bundeslandes, der Anwaltschaft der land- und forstwirtschaftlichen Genossenschaften Oberösterreichs, sind heute folgende Verbände und Genossenschaften angeschlossen: 9 Genossenschaftsverbände, 286 Raiffeisenkassen und sonstige Geldinstitute, 48 Molkerei-, Käserei- und Milchliefergenossenschaften, 33 Lagerhausgenossenschaften, 123 Elektrizitätsgenossenschaften, 20 Weidegenossenschaften, 6 Servitutsgenossenschaften, 8 Industriepflanzenbauerngenossenschaften, 9 Wald- und Holzverwertungsgenossenschaften, 22 sonstige Genossenschaften, zusammen 564 Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften. — Außerdem haben sich 341 Wasser- rechtsgenossenschaften, und zwar 167 Wasser- und 174 Wasserwerksgenossenschaften, freiwillig der Revision der Anwaltschaft unterworfen.

Seit jeher kommt den Raiffeisenkassen für unsere Landwirtschaft eine besondere Bedeutung zu. Sie waren als Spar- und Darlehenskassen die ersten bäuerlichen Selbsthilfevereinigungen und haben sich im Jahre 1900 ein zentrales Geldinstitut geschaffen. Heute bestehen 286 landwirtschaftliche Kreditgenossenschaften mit 53.683 Mitgliedern. Wie stark die Raiffeisenkassen auch von nicht landwirtschaftlichen Kreisen in Anspruch genommen werden, geht aus den nachstehenden Ziffern (Stichtag 31. Dezember 1951) über die Verwendung der Darlehen, ein-

50% der Kredite dienten also der Landwirtschaft selbst, während der Rest anderen Wirtschaftszweigen zur Verfügung gestellt wurde. Die aushaftenden Kredite der Raiffeisenzentralkasse betrugen am 31. Dezember 1951 59.65 Millionen Schilling, die fast lOOprozentig den verschiedenen landwirtschaftlichen Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften zugute kamen.

Eine genossenschaftliche Organisation von gesamtösterreichischer Bedeutung ist der „Schärdinger Oberösterreichische Molkereiverband, in dem 41 Molkerei-, 6 Käserei- und 5 sonstige Genossenschaften mit insgesamt 44.301 Mitgliedern zusammengeschlossen sind. Was dieser Verband in der ersten Nachkriegszeit durch seine Milchlieferungen für die Kinder Wiens gewesen ist, wissen die für die Ernährung verantwortlichen Stellen am besten. Auch in der Gegenwart gehört der Wiener Markt zu den Hauptabnehmern der oberösterreichischen Molkerei- und Käsereigenossenschaften, die im Jahre 1951 22,380.000 Liter Milch, mehr als zwei Millionen Kilogramm Butter und mehr als sieben Millionen Eier für die Bundeshauptstadt geliefert haben. Die Gesamtlieferung betrug 1951 an Vollmilch fast 66 Millionen Kilogramm und an Rahm 17,2 Millionen Kilogramm. Im gleichen Jahr wurden fast fünf Millionen Kilogramm Butter, 445.071 Kilogramm Käse und 925.966 Kilogramm Topfen erzeugt. Diese imponierenden Zahlen beweisen überzeugend den Höchststand der Tierzucht in Oberösterreich und die Leistungen seiner Milchwirtschaft.

Der zahlenmäßig stärkste Verband ist die Oberösterreichische Warenvermittlung, der 33 Lagerhausgenossenschaften mit einem entsprechenden Filialennetz angeschlossen sind. Mehr als 56.000 Bauern unseres Bundeslandes, in dem es rund 60.000 landwirtschaftliche Betriebe über zwei Hektar und knapp 20.000 Zwergbetriebe mit einer Fläche unter zwei Hektar gibt, haben die Vorteile der genossenschaftlichen Verwertung ihrer Erzeugnisse und des gemeinsamen Bezuges landwirtschaftlicher Betriebserfordernisse erkannt. Im Jahre 1950/51 haben die Lagerhausgenossenschaften ihren Mitgliedern neben Maschinen und Geräten sonstige landwirtschaftliche Bedarfsartikel mit einem Gewicht von über 172.600 Tonnen vermittelt und landwirtschaftliche Erzeugnisse im Gewicht von 63.500 Tonnen übernommen. Mit einem Lagerraum für rund 60.000 Tonnen Waren bilden die genossenschaftlichen Lagerhäuser heute das Rückgrat der Brotgetreide- und Speisekartoffelvorratshaltung. Rund 80 Lastkraftwagen helfen mit, die landwirtschaftlichen Produkte zu erfassen und sparen den Bauern Arbeit und Zeit. Besonders ausgebaut ist in Oberösterreich die Vermittlung von Landmaschinen. In einer Halle von 1400 Quadratmeter Fläche in Linz-Wegscheid werden in einer Dauerausstellung die neuesten Erzeugnisse der in- und ausländischen Landmaschinenindustrie gezeigt und fachmännisch erklärt. Mehr als 6000 Landwirte haben diese beispielhafte Einrichtung, die kürzlich ein besonderes Lob des Landwirtschaftsministers Thoma erhalten hat, bereits besucht, und von hier gehen die Im pulse aus für die so dringend notwendige

Technisierung der bäuerlichen Betriebe. Fällt schon den Lagerhausgenossen- sdiaften eine wichtige Aufgabe bei der Produktionssteigerung und Qualitätsförderung zu, dann erst recht der Landessaatbaugenossenschaft. Ihr unterstehen die beiden Pflanzenzuchtbetriebe Reichers- berg und Anzberg, die Teststation Wil- hering und die Zentralsaatgutlager Ottensheim und Wels. Der „Landessaatbau" obliegen drei Aufgaben: Züchtung, Vermehrung und Absatz. Die von ihr in den letzten Jahren erzielte Qualitätsverbesserung des Saatgutes und die Steigerung des Umsatzes haben sich für die gesamte Landwirtschaft des Landes überaus günstig ausgewirkt. Mehr als bisher steht den Bauern hochwertiges Saatgut zur Verfügung, und in nicht allzu langer Zeit werden die Erfolge in einer erhöhten Produktion allen sichtbar sein.

Zu den jüngsten, doch aktivsten Organisationen der Landwirtschaft gehören .die Zentralforstgenossenschaft und die Oberösterreichische Viehverwertungsgenossenschaft. Zu welchen gewaltigen Leistungen echter Raiffeisengeist auf dem Gebiet der Holzverwertung befähigt, erkennt man am augenscheinlichsten an der Hochgebirgsgroßaktion der Zentralforstgenossenschaft im Gebiet des Pyhrn, wo aus bis jetzt fast unzugänglichen Gebieten Hölzer, die unbringlich waren, im Zusammenwirken von drei Seilbahnen in 10 Meter langen Blochen zu Tal gebracht werden. Die Rohholzmindestmenge, die jetzt von der Zentralforstgenossenschaft jährlich verarbeitet werden kann, stieg durch die modernen Bringungsmittel auf 26.000 Festmeter. Neben dem Export vernachlässigt die Zentralforstgenossenschaft keineswegs die Inlandversorgung und hat dem einheimischen Bergbau bereits bedeutende Mengen Grubenholz geliefert.

Eine maßgebliche Stellung auf dem oberösterreichischen und Wiener Markt nimmt heute die Oberösterreichische Viehverwertungsgenossenschaft ein. Nicht nur die Bauern haben den Nutzen dieser Genossenschaft schätzen gelernt, sondern auch die Konsumenten erkennen immer mehr den Wert einer geregelten und gleichmäßigen Versorgung des Marktes mit Schlachtvieh. Wenn der Bürgermeister von Steyr sich bereit erklärt hat, für die Oberösterreichische Viehverwertungsgenossenschaft in seiner Stadt einen Viehstall zu errichten, dann bedarf dieses Vertrauensvotum zu einer bäuerlichen Genossenschaft keines Kommentars mehr. Dieser kurze Ausschnitt aus der Arbeit der Raiffeisenorganisationen Oberösterreichs zeigt, daß die landwirtschaftlichen Genossenschaften heute weder von der Bauernschaft noch von den Konsumenten entbehrt werden können. Als sie im Sommer 1945 in ihrer echten und ursprünglichen Form neu erstanden und es galt, zerstörte Lagerhäuser und Molkereien wiederaufzubauen und sonstige Kriegsschäden, die viele Millionen Schilling ausmachten, zu beseitigen, da wartete man nicht auf fremde Hilfe. Die Genossenschaften schlossen sich in bewährter Opfergesinnung zusammen, vertrauten auf die eigene Kraft und schufen Gemeinschaftswerke, die lebendige Denkmäler unserer Zeit für die wirtschaftliche Selbstbehauptung und den demokratischen Geist unseres Landvolkes sind.

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