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Freie Sozialformen in Polen

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Auf einer Reise nach Polen, zu der eine katholische Vereinigung eingeladen hatte, bot sich Gelegenheit, Einrichtungen des Landes kennenzulernen, die im Ausland wenig bekannt sind. Aus der Fülle der Eindrücke sei eine wirtschaftliche Einrichtung herausgegriffen, die für die Sozialpolitik in Polen charakteristisch ist und bereits auf eine lange Tradition zurückblicken kann: die Arbeitsgenossenschaften, die heue eine beachtliche Stellung in der Wirtschaft Polens einnehmen, weil diese Produktivgenossenschaften- ein Gegengewicht gegenüber der verstaatlichten Wirtschaft darstellen. Die private Wirtschaft, die sich wieder zu regen beginnt, spielt derzeit im kommunistischen Wirtschaftssystem begreiflicherweise keine große Rolle.

Diese Arbeitsgenossenschaften sind nicht eine Gründung des kommunistischen Systems, sondern reichen bis auf das Jahr 1860 zurück. Sie entstanden damals nach den französischen Vorbildern. Es gibt heute in Polen etwa 3 500 Produktivgenossenschaften mit 408.000 Mitgliedern. Daneben bestehen Hilfsgenossenschaften der Selbständigen, wie etwa der Tischler, Schuhmacher und Schneider. Diese Produktivgenossenschaften sind in einem Verband zusammengefaßt, dem bestimmte Aufgaben zustehen. Diese Mitgliedsgenossenschaften gehören den verschiedensten Branchen an, Wir besuchten einen Betrieb, der Feinmeßgeräte herstellt, gleich darauf einen kosmetischen Salon und eine Aquariengenossenschaft, die im großen Stil die Zucht von Zierfischen betreibt. Besonders den Dienstleistungsbetrieben kommt eine große Bedeutung tu; so ist fast das gesamte Bewachungsgewerbe auf genossenschaftlicher Grundlage aufgebaut. Die Mitglieder sind nicht nur arbeitsintensive Betriebe, sondern es gibt eine Reihe von höchst kapitalintensiven Betrieben. Es handelt sich dabei jedoch nur um Klein-, höchstens Mittelbetriebe nach polnischen Verhältnissen. Die Diskussion, die wir mit dem Präsidenten des Verbandes führen konnten, ergab eine Reihe sehr beachtlicher Details. So wird die Ansicht vertreten, daß sich die Genossenschaftsform nur bis zu einer bestimmten Grenze von Beschäftigten einführen läßt; diese Grenze liegt zwischen 600 und 800 je nach Art des Betriebes. Sehr interessant war zu hören, daß die rechtliche Form dieser Genossenschaften auf unser heute noch in Oesterreich bestehendes Gesetz von 1873 über die Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften zurückgeht, das damals im österreichischen Galizien eingeführt wurde. Dieses Gesetz wurde 1920 novelliert, schon damals die beschränkte Haftung fallengelassen und diese nur auf den Geschäftsanteil beschränkt. Dieses Gesetz bildet mit wenigen Aenderungen noch heute die gesetzliche Grundlage dieser Produktivgenossenschaften.

Der Zusammenschluß dieser Genossenschaften in einem Dachverband erwies sich als notwendig, um dem Kapitalmangel der Genossenschaften abzuhelfen. Die Kapitalbildung erfolgt in der Weise, daß 20 Prozent vom Reingewinn von den einzelnen Genossenschaften an den Zentralverband abgeführt werden müssen, der seinerseits die in ihm zusammengeschlossenen Genossenschaften im Wege von Investitionsdarlehen finanziert. Wenn auch der Zentralverband eine Bank im eigentlichen Sinne nicht besitzt, so übt er auf diese Weise die Funktion einer Investitionsbank aus. Eine weitere Kapitalbildung erfolgt bei den einzelnen Genossenschaften in der Weise, daß sie verpflichtet sind, 20 bis 25 Prozent ihres Reingewinnes in Reserven anzulegen, 5 Prozent werden für soziale Leistungen des einzelnen Betriebes ausgegeben und die restlichen 50 Prozent an die Mitglieder der Genossenschaft ausgeschüttet. Es ist möglich, mehrere Genossenschaftsanteile zu erwerben, doch hat das einzelne Mitglied in der Generalversammlung nur eine Stimme. Die Verteilung erfolgt nach Leistung im Betrieb, wobei der Tariflohn, der zunächst nur als Vorschuß auf den Anteil gewertet wird, die Basis bildet. Die Genossenschaften verfügen zusammen über rund 6 Milliarden Zloty Eigenmittel, der Umsatz beträgt jährlich rund 30 Milliarden Zloty. Dem Verband, der territorial gegliedert ist, kommen außer der Kapitalbeschaffung noch verschiedene andere Aufgaben zu, wie Instruktionen in technischer Hinsicht, Beratung bei Beschaffung von Maschinen, Hilfeleistung bei der Planung der einzelnen Genossenschaften. Es besteht, wie mir versichert wurde, keinerlei Dirigismus vom Verband her auf die einzelne Genossenschaft, wohl aber untersteht der Verband der allgemeinen staatlichen Planung; damit untersteht natürlich auch jede Mitgliedsgenossenschaft indirekt dieser Planung. Es wird auch versucht, vom Verband her gewisse soziale und kulturelle Fragen zu koordinieren. Wie mir mitgeteilt wurde, beruht der Beitritt des Genossenschafters zur Genossenschaft auf absoluter Freiheit. Nicht-Genossenschafter stehen im reinen Dienstverhältnis zur Genossenschaft. Die Zahl dieser Nichtmitglieder beträgt im Durchschnitt 10 Prozent, die bei der angegebenen Zahl von 408.000 Mitgliedern nicht inbegriffen sind. Die Anwartschaft (Kandidatur) beträgt je nach Genossenschaft ein bis sechs Monate; nach dieser Zeit besteht ein Recht des Dienstnehmers, in die Genossenschaft aufgenommen zu werden.

Neben- den genannten reinen Produktivgenossenschaften gibt es noch Hilfsgenossenschaften für die Heimarbeiter, zur Instruktion, Hilfeleistung in sozialer Hinsicht, Beschaffung der Rohstoffe usw. Diese. Genossenschafreijn besorgen auch die Vergebung von Heimarbeit,.,so. daß auf diese Weise Mittelspersonen ausgeschaltet werden. Eine besondere Art, die nicht in den genannten Ziffern enthalten ist, bilden die sogenannten Bauwerkgenossenschaften, deren es rund 300 gibt. In ihnen sind jene Professioni-sten zusammengeschlossen, die auf einem Bau arbeiten. Der Aufbau Polens, der noch lange nicht abgeschlossen ist, bewirkt eine starke Beschäftigung der Genossenschaften.

Die Bauern, die nach 1956 ihr Land wieder zurückerhalten haben, bebauen dieses teilweise wieder selbst, doch haben auch sie sich zu Landwirtschaftsgenossenschaften, und zwar nicht als Hilfsgenossenschaften, sondern als reine Produktivgenossenschaften zusammengeschlossen, ähnlich den israelischen Genossenschaften. In diesen polnischen Landwirtschaftsgenossenschaften verbleibt der Grund und Boden im Eigentum der Bauern, aber sie betreiben ihre Landwirtschaft gemeinsam. Diese Genossenschaften sind ihrerseits wieder in einem eigenen Dachverband zusammengeschlossen. Auch die freischaffenden Aerzte haben sich in solchen Genossenschaften zusammengeschlossen, die ihre Interessenvertretung darstellen, wie etwa bei uns die Aerztekammer.

Diese Entwicklung zeigt, wie mannigfaltig sich das Genossenschaftswesen, das durchaus keine kommunistische Erfindung ist, im Laufe der Zeit in Polen gestaltet hat.

Die rechtliche Stellung der Genossenschafter zur Genossenschaft ist noch nicht zu Ende entwickelt. Es ist kein reines Lohnverhältnis mehr, aber es ist auch nicht das Verhältnis eines Selbständigen. Wie mir versichert wurde, wird sich letzten Endes ein eigenes, genossenschaftliches Arbeitsverhältnis herausbilden. Für diese Genossenschaften bestehen auch arbeitsrechtlich gewisse Ausnahmen, zum Beispiel in der Arbeitszeitregelung, in der die Möglichkeit einer Verlängerung der Arbeitszeit vorgesehen ist. Auch das Beteiligungssystem ist noch nicht ausgereift. Ein Anspruch besteht nur auf die Auszahlung des Geschäftsanteiles bzw. der Geschäftsanteile, wenn der Genossenschafter deren mehrere besitzt. Ein Rechtsanspruch auf andere Leistungen, etwa auf eine Beteiligung am Reservefonds oder an den Umlagen, die an den Verband abgeliefert werden müssen, besteht für den einzelnen nicht. Wie stark die Stellung dieser Genossenschaften und ihrer Genossenschafter ist, kennzeichnet folgende Begebenheit. Als man die Genossenschafter aufforderte, dem kommunistischen Gewerkschaftsbund beizutreten, weigerten sie sich und erklärten, sie hätten selbst in ihrem Verband einen ausreichenden Schutz.

Schon diese Entwicklung der Arbeitsgenossenschaften in Polen allein zeigt, daß dieses Land nicht mehr dem kommunistischen System klassischer Prägung zuzurechnen, ist, sondern es steht zwischen den Zeiten des Liberalismus und des extremen kollektiven Kommunismus. Gerade die Entwicklung der Genossenschaften zeigt, daß der Kommunismus nicht imstande war, dort einzubrechen, wo privates Eigentum — und um solches geht es bei dieser Art von Betrieben, wenn auch in einer bestimmten Form — weitgehend gestreut ist. Aber noch ein weiteres ist erkennbar, daß der Katholizismus in Polen bereit ist, ohne Aufgabe von Grundsätzen neue Wege zu gehen. In Jasna Gora wird viel gebetet, aber auch um neue Probleme diskutiert und um neue Wege gerungen. Es gibt für Polen kein Zurück in die Vergangenheit, davon sind auch die Katholiken überzeugt; sie sind bereit, neue Wege aus den Grundsätzen christlicher Soziallehre heraus zu gehen.

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