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75 Jahre Genossenschaftsgesetz

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Am 9. April 1873 erhielt Österreich sein Genossenschaftsgesetz und damit sein geschriebenes, paragraphiertes Genossenschaftsrecht. Ein ungeschriebenes Recht, das wirtschaftliche Gemeinsamkeiten unter Stammesangehörigen, Dorfinsassen, unter Nachbarn und Genossen ordnete, hat es im österreichischen Raum seit eh und je gegeben — seit unsere Ahnen vor 1500 Jahren hier seßhaft geworden sind. Eben aus dieser Zeit sind uns die ersten und ältesten Genossenschaften bekannt: die Almenden, die zur Allgemeinnutzung ausgegliederten Grundflächen, meist Weiden oder Wald, während die Felder auf die Insassen verteilt wurden. Die Bewirtschaftung der im gemeinsamen Besitz verbliebenen Grundstücke vollzog sich nach einer bestimmten Ordnung, nach dem Gemeinschaftsrecht. Auch die Bewirtschaftung der Eigengrundstücke war nicht der Willkür der Eig-nberechtigten überantwortet. Auch hier gab es gemeinsame Interessen, Gemeinsamkeiten (Flurzwang! Grenzregelung, Weg- und Wassernutzung usw.); also auch hier Richtlinien, Recht und Ordnung. In der Markgenossenschaft fand das ganze wirtschaftliche Leben seinen rechtlichen Niederschlag.

Tausend Jahre lang stand das naturnahe, volksverbundene, alte heimische Recht in Ansehen und Geltung. Von, diesem Recht waren die alten Mühlen- und Deichgenosscnschaften getragen, die genossenschaftlichen Butter- und Käsereien im 14. Jahrhundert; die Gilden, Innungen und Zünfte im Handwerk und Gewerbe, die Hansa und so viele andere genossenschaftlichen Gebilde des Mittelalters. Uralte, in der Menschenbrust schlummernde Regungen bahnten unseren Voreltern den Weg zur Gemeinschaft: zur Familie, zur Großfamilie, zum Stamm, zur Genossenschaft, zur Gemeinde. Aus den seelischen Tiefen dieser naturtreuen Altvordern wurde durch Jahrhunderte das Recht geschöpft, das im wesentlichen ein Gemeinschaftsrecht, ein Genossenrecht war.

Im Ausgang des Mittelalters wurde das gute alte volksverbundene Recht durch das Einsickern des römischen Rechtes verbogen und schließlich verdrängt. Damit wurde den schönsten Blüten der Assoziationsidee, den ausgereiften Früchten des Gemeinschaftsgeistes, dem Genossenschaftsleben schwerer Schaden zugefügt.

Im alten Rom lag dem Rechtsverhältnis der Bürger zum Staat eine ganz eigene Auffassung zugrunde: Der Staat wird von einer Vielheit von Einzelwesen gebildet. Der einzelne steht ohne soziale oder religiöse Bindung in unmittelbarer Beziehung zur Omni- potenz der res publica; Recht schöpfen und Gesetze erlassen, ist einzig und allein Sache des Staates. Er ist die einzige und oberste Instanz. Die Rechte der Bürger werden vom allmächtigen Staat geschützt. Eine andere Ge- meinsdiaftsbindung kennt der Römer nicht; als Urheber und Träger seiner subjektiven Rechte tritt er unmittelbar der staatlichen Machtfülle gegenüber. Immer nur bleibt der einzelne der Dreh- und Angelpunkt des römischen Rechts. Das Einzelrecht ist genau fixi.rt und beredienbar. Im Rahmen der Gesetze herrscht der Wille der Berechtigten selbstherrlich und schrankenlos.

Das innere Wesen unseres Volkes, seine ganze Geschichte stemmte sich gegen das Eindringen des römischen Rechts. Nach alter heimischer Rechtsauffassung ruhte das Recht in der Gemeinschaft. Familie und Sippe, Ahnende und Markgenossenschaften galten als die Berechtigten. In ihrem Kreis fand der einzelne sein Recht; er konnte sich nicht aus dem Familienzusammenhang lösen. Durch natürliche und soziale Bande war er rcditlidi gebunden. Dem Staat gegenüber war er frei. Ausgang und Mittelpunkt dieses Volksrechtes blieb die Gemeinschaft. Vor den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Gemeinschaft mußte das persönliche Begehren zurücktreten. Die Genossenschaft galt als rechtliche Körperschaft; daher kannte schon die älteste Überlieferung ein genossenschaftliches Gesamteigentum, eine Vermögensgemeinschaft. Das Gesamteigentum war ungeteilt und unteilbar. Der Gemeinsinn war stark ausgeprägt; private und individuelle Rechte wurden zugunsten der Gemeinschaft eingeschränkt.

Dieser hohe ethische Gehalt im überlieferten heimischen Volksrecht fand im römischen Recht keinen ebenbürtigen Gegenwert.

Dessen Einführung bedeutete denn auch eine gewaltsame Erschütterung auf allen Gebieten. Daß es unsere Rechtswissenschaft in hervorragendem Maße bereicherte und befruchtete, ist über jeden Zweifel erhaben. Aber die Art der Handhabung, die einseitige Anwendung von Rechtsgrundsätzen mußte dazu führen, daß in das bodenständige Rechtsgebäude eine Bresche um die andere geschlagen wurde. Die Bauern wurden vielfach aus ihren Almenden, dieser ursprünglichsten Genossenschaft, vertrieben. Die neue rechtswissenschaftliche Lehre sch rieb beflissen dem Fürsten das Obereigentum über die Ahnenden ihres Landes bei. Die Markgenossen wurden vielerorts zu bloßen Nutzungsberechtigten.

Es kam die Zeit der ärgsten Leibeigenschaft. Frone, Robotten und Zehent galten nicht mehr als Gegenleistung für Schutz- und Verwaltungsdienste; sie wurden verlangt und abgeleitet aus dem absoluten Herrentum des allein berechtigten Machthabers. Der, soweit nicht die kaiserliche Macht dem Treiben der Grundherren und der Landesfürsten zu wehren vermochte, selbst in die geheiligten Privatbezirke der „Untertanen“ eingreifen konnte.

Das einseitig angewandte römische Recht zog in Verbindung mit den individualistischen, eigensüchtigen Gedankengängen einer erwerbsfrohen Zeit den Kapitalismus mit all seinen Schattenseiten, Ausbeutung, Wucher und schrankenloser Gier groß. Wohl bäumte sich das wache Rechtsgewissen gegen die formalistische Übernahme des fremden Rechtes auf; es wehrte sich und ruhte nicht, aber erst im Laufe der Jahrhunderte wurden Härten beseitigt und manche wertvolle Position des alten verschütteten Gemeinschaftsrechtes zurückgewonnen.

Ein starkes Zurückgreifen auf Rechtsnormen, die aus dem echten Volkstum herausgewachsen sind, brachte vor allem das G e- nossenschaftsgesetz. Mit diesem bezogen uralte Grundsätze des Gemeinschaftslebens wieder ihre ehemaligen Stellungen im Rechtsleben: schon die Vereinfachung der Geschäftsführung, die Ausweitung des mündlichen Verkehrs, die Handhabung des Stimmrechtes, die Verwendungsmöglichkeit von Geschäftsüberschüssen, die eigene Behandlung des Reservefonds, die starke Betonung der Wirtschaft gegenüber den Privatinteressen, der Gemeinschaft gegenüber dem Individuum, der sozialen Gebundenheit gegenüber schrankenlosem Liberalismus, die Wiedererweckung der alten Dorfgemeinde — dies alles kam zur Geltung durch Grundsätze, die nicht aus dem römischen Recht, sondern aus dem Rechtsempfinden unseres Volkes emporgewachsen waren.

Das Wichtigste von allem, aber auch das Entscheidende ist die Zurückgewinnung des Rechtes der Selbstverwaltung, die gesetzliche Anerkennung des Grundsatzes der Selbsthilfe und Selbstverantwortung. Nach diesem Grundsatz obliegen der kleingegliederten Gemeinschaft für ihren Bereich soviel an Recht und Verantwortung, soviel an Aufgaben und Pflichten, als diese erfüllen kann. Erst die übergeordneten Aufgaben — Angelegenheiten, die über den eigenen Raum hinausreichen — werden übergeordneten Gemein sdiaf ten überlassen.

Im allgemeinen staatsbürgerlichen Bereich hat die Gemeinde schon 24 Jahre vorher ein Maß von Autonomie zuerkannt erhalten, das an die Selbstverwaltungsaufgaben der alten freien Markgemeinde erinnert.

Im Bereich der Wirtschaft wurde der Genossenschaft ihr freies, reditlich selbständiges Gemeinschaftsleben durch das Gesetz vom

9. April 1873 gesichert. Es schuf die Grundlagen zu einem organisch gegliederten Aufbau des Wirtschaftsgefüges; es ermöglicht, von Grund auf eine Ordnung aufzubauen, deren Fundamente vom Liberalismus arg verschüttet waren.

Vor 75 Jahren gab der Staat durch das Genossenschaftsgesetz den Weg frei für die freie selbstverantwortliche Entwicklung wirtschaftlicher Gemeinschaften.

Seit 1873 h.iben sich manche wirtschaftlichen Voraussetzungen geändert; manche Einsichten in das Wesen der Dinge haben sich vertieft. Dem Rechnung zu tragen, wird bei einer künftigen Novellierung des Gesetzes unvermeidlich sein. Die Bestimmungen über die Verwendung des „Gewinnes“ und des Vermögens, der reinen genossenschaftlichen Linie anzupassen, die Bestellung des Aufsichtsrates (die derzeit nur fakultativ ist), vor allem aber die Beseitigung der letzten Schranken zur Erlangung der vollen Autonomie der Genossenschaften, wird mit Nachdruck zu verfolgen sein.

Immer aber muß uns gegenwärtig bleiben, daß das beste Genossenschaftsgesetz keine Genossenschaftsbewegung hervorrufen kann

— Bewegung und Leben erhält eine Einrichtung, wenn sie vom Geist beseelt ist. Der echte wahre verantwortungsbewußte Gemeinschaftsgeist, der vor 75 Jahren unser Genossenschaftsgesetz geschaffen hat, muß weiterhin die tragende Kraft der Genossenschaften bleiben.

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