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Entpersönlichte Genossenschaft

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Die traditionellen Genossenschaften hatten stets einen Doppelcharakter (G. Draheim); einerseits waren sie Wirtschaftsgebilde, auf der anderen Seite aber emotionell verbundene Personen Vereinigungen: Die Genossenschaften des Ursprungs waren blutsverbandliche oder nachbarschaftliche Arbeitervereinigungen in sozialegalitär organisierten Gruppen. Jeder Genosse War auch mittätig (= echte Genossenschaften).

Vom 19. Jahrhundert an, in der zweiten Phase ihrer Entwicklung waren die Genossenschaften ein Schutzverband von Marktschwachen und insoweit ein Förderungsverband, der sich in erster Linie des Instrumentes ökonomischer Integration der Angehörigen von relativ autochthonen sozialen Großgruppen (marktschwache Bauern, Gewerbetreibende oder Arbeitnehmer) bediente. Grundziel war (und ist) die in ihrer Wirkung auf den einzelnen oft schwer meßbare Mitgliederförderung durch gemeinsames Wirtschaften auf Beschaffungs- oder auf Absatzmärkten stets dann, wenn der einzelne marktschwach und fast ein Marktpassiver ist.

Wandlung nach den Krieg

Nach dem zweiten Weltkrieg sind die Genossenschaften (vor allem die Produktionsgenossenschaften) in eine Phase ihrer Entwicklung eingetreten, deren Ausmaße bereits zu einer derartigen inhaltlichen Änderung der Genossenschaften geführt haben, daß man von einer Mutation sprechen kann: Die formale Zielvorstellung (das „Leitbild“), die juristische Konstruktion und die Wirklichkeit sind nicht mehr aufeinander abgestimmt.

Wenn auch das personalbezogene Ziel der Mitgliederförderung auf Basis der Selbsthilfe weiterhin unentwegt betont wird, sind doch unverkennbar aus vielen Genossenschaftsbetrieben im Verlauf einer Kommerzialisierung des Genossenschaftsgedankens Genossenschafts- 'ÜhldfhehYnbn entstanden: Sie sind in erster Linie nicht mehr Schutzgebilde für Marktschwache und sie operieren nicht mehr ausschließlich defensiv, sondern sind vielfach bereits marktaggressiv.

Die Genossenschaften neuen Typs treten also auf den Märkten nicht nur als Protektoren von Marktschwachen auf; ausgenommen örtliche und kleinere Genossenschaften. Ihr deklariertes Bemühen ist es, als Produktionsgenossenschaften Märkte zu stabilisieren und als Konsumen- tengenossensčhaften preisdrückend zu wirken.

Als nunmehr Marktaktive stehen die Genossenschaftsuntemehmungen im Wettbewerb mit Nicht-Genossenschaften. Die Mitgliederförderung ist zum faktischen Nebenziel geworden. Das hat zur Folge, daß idle Genossenschaften den Charakter eines Hilfsunternehmens, also eines subsidiären Wirtschaftsgebildes, allmählich verlieren. Vielleicht u. a. deswegen, weil es etwa bei den Konsumenten nicht mehr die auf Solidarität dringende Hilfsbedürftigkeit alten Ausmaßes gibt, eher noch das Interesse an irgendeinem Bonus (kulturelle Veranstaltungen). Hauptziele (Wenn auch nicht deklariert) siind vor allem bei großen Genossenschaften die

Gewinnoptimierung (Aufgabe des ursprünglichen Prinzips der Aufwanddeckung) und (oder) Sicherung der Marktposition.

Als gewinnorientiertes Wirtschaftsgebilde sind die in Frage kommenden großräumig lokalisierten Genossenschaften jedoch latent der Gefahr der Besteuerung ihrer Gewinne (Überschüsse) ausgesetzt, deren Verwendung freilich zu einem offenen Problem geworden ist, ist doch das Elementarprinzip der Genossenschaften eine Art von ökonomischen Altruismus. Am deutlichsten zeigt sich jedoch die Neigung, definitiv das ursprüngliche Genossenschaftsprinzip aufzugeben, wenn z. B. Einkaufsgenossenschaften wie EDEKA und REWE (BRD) Bestrebungen zeigen, sich in Aktiengesellschaften umzuwandeln, (s. P. Attes- lander, Soziologische Arbeiten, S. 121, W. Hesselbach in WWJ-Mitteilungen des DGB, 7 8, S. 188).

Wechsel in der Führung

Die Bildung von Genossenschaftsunternehmungen entspricht immer mehr der unvermeidbaren Autono- misierung der meist nach parteipolitischen und nicht immer nach fachlichen Kriterien ausgewählten Führung und Administration der Genossenschaften und ihres vor allem in den Zentralgenossenschaften konzentrierten Top-Managements. Das Management kann sich erst langsam von der zu starken Bevormundung durch die auch politisch orientierten Mandatare lösen und ist nicht durchweg mit dem Management in formell gewinnorientierten Wintschaftsigebilden vergleichbar. Die Angehörigen des Managements sind aber in ihrem Entscheidungsspielraum, In ihren alltäglichen Dispositionen schon lange nicht mehr von den Genossenschaftlern selbst bestimmt; diese sind ähnlich wie die Volksaktionäre oder Inhaber von Baby-Bonds machtlose Eigentümer, wenn ihr Eigentum auch nicht die Qualität „nackten Eigentums“ hat. Gegengleich ist es bei den Angehörigen dės Managements zum Entstehen einer vertraglich abgesicherten Besitzmacht, einer Eigentumsgebrauchsmacht auf Dauer des Dienstvertrages gekommen.

Wenn die Genossenschaften im kommerziellen Wettbewerb bestehen wollen, ist die seinerzeit bei ihrer Konstitution vorgenommene Einschränkung des Führungsprinzips und das System einer kollegialen Führung nicht mehr zu halten. Das Management der Genossenschaften kann diese nicht, wie seinerzeit, als Kommissionär eines Bündels von je verschiedenen einzelpersönlichen Wünschen und daher als Auftragsunternehmen verstehen und lehnt im Alltag die Konfrontation mit den differenten Wünschen der Genossenschaftler ab.

Die gruppensozialistische Periode der Genossenschaften, die für deren Urformen charakteristisch war und die es bedingt auch noch bei Produktionsgenossenschaften des neunzehnten Jahrhunderts gegeben hatte, ist offenkundig bei vielen Genossenschaften liquidiert — ausgenommen in den Entwicklungsländern und bei kleineren örtlichen Genossenschaften. Dort bieten sich die Genossenschaften als dörflich-regionale Wirtschaftsgebilde des Überganges geradezu an.

Vertikale Konzentration

Die Morphologie der Genossenschaften hat aber nicht allein im Bereich der Führung eine Wandlung erfahren, sondern auch infolge des relativen Größenwachstums der Betriebe, das eine Folge der Anpassung an den Wachstumsprozeß der Wirtschaft und deren Führung durch Großbetriebe ist. Das GrÖßenwachs- tum der Genossenschaften geht einher mit einer unternehmerischen und betrieblichen Konzentration. Die Lekai- und Primärgenossenschaften bleiben zwar in ihrer Größe meist unverändert, nicht aber die Zentralgenossenschaften, die Genossenschaften der Genossenschaften.

Die Konzentration der Genossenschaften, die vor allem mit dem Bemühen zusammenhängt, Kostenvorteile und Marktpostitionen zu ge

winnen, zeigt sich in mehreren Formen:

Durch vertikale Konzentration dringen die Genossenschaften auf vorgelagerte Märkte vor. Verkaufsgenossenschaften gehen in die Produktion und Einkaufsgenossenschaften in den Einzelhandel.

Eine neue Form genossenschaftlicher Konzentration zeigt sich in der Bildung von konglomerierter Genossenschaftsunternehmungen. (Die Bildung konglomerierter Kombinate ist übrigens ein weltweites und über den Bereich der Genossenschaften hinausreichendes Phänomen unternehmerischer Konzentration.) Dabei verlassen die Gewerkschaften ihre bisherige sektorale oder funktionelle Bindung an bestimmte Wirtschaftsgruppen und etablieren sich auch

branchenextern: Dem bäuerlichen Haushalt werden von Agrargenossenschaften Güter angeboten (Produktionsmittel bis „bäuerliche“ Kleidung), deren Verkauf legitim zur Gewerbeberechtigung anderer Wirtschaftszweige gehört. Die Folge sind

die aus der Presse bekannten Auseinandersetzungen etwa um den Begriff der „land- und forstwirtschaftlichen Betriebserfordemisse“, dessen Abgrenzung (als Ausnahmebestimmung von der Gewerbeordnung) noch einer gesetzlichen Definition bedarf, da der Handel mit der genannten Gütergruppe ohne Gewerbeberechtigung erfolgt (s. „Müh- len-Markt“, Wien, v. 20. August 1968, S. 285).

Eine ähnliche, formell wesens

fremde, aber wirtschaftlich zuweilen unvermeidliche Expansion der Genossenschaften zeigt sich in der Errichtung von Tochtergesellschaften. Auch diese dienen formell, aber auch faktisch der Mitgliederförderung.

Von der Genossenschaft zum „Unternehmen“

Das Nichtmitgliedergeschäft bei Konsumgenossenschaften hat gegenüber dem Zweckgeschäft eine wesentliche Ausweitung erfahren und dient

u. a. der optimalen Kapazitätsauslastung. In der BRD soll nunmehr das Nichtmitgliedergeschäft auf 10 Prozent des Umfanges der Vorjahrsumsätze beschränkt werden. Auch in Österreich scheint es wegen des Nichtmitgliedergeschäftes zu Auseinandersetzungen zu kommen.

In einer sozialreformatorischen Situation, in der Mitbestimmung und Miteigentum gefördert wird, zeigen sich im Genossenschaftssektor, in dem seinerzeit Cogestion und Sub

stanzbeteiligung eine erste praktikable Ausformung erhalten hatten, bemerkenswerte Ermüdungs- wenn nicht Rückbildungserscheinungen, die sich u. a. in einer Vermengung von Zielen und Mitteln zeigen.

In der gegebenen Wettbewerbslage können jedoch die Genossenschaften, die nicht jenseits des Marktes, sondern in seiner Mitte operieren und operieren müssen, nicht exklusiv Sein und sich an eine historische, also an eine abgestorbene Marktsituation anpassen, die sie bei ihrer Gründung bestimmt hatte. Heute gilt offenkundig definitiv das Oppenheimersche Gesetz der Transformation: Wenn (Produktions-) Genossenschaften nicht untergehen wollen, müssen sie sich in Gesellschaften (d. h. „Unternehmungen“) umwandeln. Angesichts der neben Entwicklung der Genossenschaften zeigt sich daher ihre Eigenart nicht mehr sosehr in der Art, wie sie sieh am Wirtschaftsverkehr beteiligen oder wie sie geführt werden, sondern, wozu die Überschüsse verwendet werden und ob die Genossenschaftler Anteile an den freien oder an den stillen Rücklagen erhalten. Ist dies nicht mehr der Fall, sind die Genossenschaftler nicht einmal in der Position von Zertifi- kateigentümem bei Inverstment- gesellschaften: Sie sind dann Kapitalgeber mit Kontrahierungs- und Bonusrecht.

Falls die Genossenschaften monopolartige oder monopoloide Positionen auf einzelnen Märkten erlangen, kann es sogar dazu kommen, daß sie ihren Mitgliedern gegenüber, die zugleich ihre Kunden sind, eine besondere, dem ursprünglichen Genossenschaftsgedanken widersprechende Macht erlangen.

Die angedeutete generelle Entwicklung der Genossenschaften, die keineswegs mit den juristischen Rahmen und den konventionellen Modellen übereinstimmt, sollte Anlaß für eine neuerliche, wissenschaftliche (u. a. rechtstheoretische) Überprüfung des Phänomens der Genossenschaften sein, die sich in einer gegenüber dem Ursprung völlig veränderten Welt etablieren müssen.

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