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Unsere landwirtschaftlichen Genossenschaften im Aufbau

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Die 4000 landwirtschaftlichen Genossenschaften in Österreich bilden den weitaus stärksten Pfeiler unserer Landwirtschaft und unseres Ernährungswesens. 60 bis 70 Prozent der landwirtschaftlichen Produktion pulsiert durch den Organismus der Genossenschaften. Sie sind das Rückgrat unserer Wirtschaft. Auch bei ihnen sind die Kriegszeit und ihre Folgeerscheinungen nicht spurlos vorübergegangen, weder in materieller, noch in geistiger Beziehung. In tausendfältiger Kleinarbeit wird jetzt in den Genossenschaften am Wiederaufbau gearbeitet: Zerstörte Fabriken und Mühlen, ausgebrannte Lager- und Vorratshallen sind neu aufzubauen; 40 Millionen Schilling an Material und Arbeit werden fürs erste hiezu eingesetzt werden müssen. Hochwertige Maschinen in Mölkereien und Brennereien, ungezählte Transportmittel, vom Eisenbahntank bis zur Milchkanne, vom lÖ-Tonnen-LKW bis zum Kartoffelsack, sind neu herzustellen und zu ersetzen. Deutsche Reichsschatzscheine, vernichtete und verloren gegangene Barbestände bleiben in bedeutender Höhe unwiederbringlich verloren.

Aber fleißige Hände sind für den Wiederaufbau am Werke. Zerstörte Buchführungen werden rekonstruiert. In rascher Folge werden beschädigte Eisenkassen ausgebessert, neue Panzerschränke am laufenden Band an Genossenschaften geliefert. Kein Tag vergeht, an dem nicht wieder ein Baustein dem genossenschaftlichen Aufbau eingefügt wird.

Wieviel noch zu leisten ist, ersehen wir aus der Tatsache, daß nach zehn Monaten Befreiung erst ein Fünftel der dringend erforderlichen Menge an Milch nach Wien fließt, daß erst ein Viertel der erforderlichen Menge an Getreide aus dem eigenen Lande stammt (wieviel hier die Demarkationslinien blockieren, wäre unschwer zu errechnen), daß der Kartoffelkonsum in der Stadt nur mit 18 Prozent befriedigt werden kann, die Fettlücke trotz Hilfe der Alliierten noch mit 140 Grad im Kreise offensteht und daß die Deckung des Fleischbedarfes der Großstadt in ganzen Prozenten kaum ausgedrückt werden kann.

Zugleich wird an der Entgiftung des Gemeinschaftslebens von der parteipolitischen Diktatur gearbeitet. Schon im Herbst 1945 konnte festgestellt werden, daß die Säuberung von dem Fremdgeist bei den meisten Genossenschaften bereits mit Erfolg durchgeführt wurde. Bei dem größten Teil der Genossenschaften wurde durch Neuwahlen, dafür gesorgt; bei etlichen Großgenossenschaften haben politisch belastete Funktionäre ihrer Tätigkeit durch die Flucht ein jähes Ende gesetzt. Nur wenige Genossenschaften bedurften eins öffentlichen Verwalters, der das Betriebsvermögen zu sichern und den Übergang zu geordneten Verhältnissen vorzubereiten hatte. Dieser personelle Teil der Säuberung war auf Grund klarer Gesetzeslage verhältnismäßig leicht durchzuführen.

Anders verhält es sich mit der geistigen Erneuerung. Durch sieben Jahre hindurch ist in Hunderten von Kanälen mit' Wort und Schrift auf die Vorstellungswelt vieler unglücklich eingewirkt worden. Nun muß das selbstherrliche Diktat irgendwelcher „Führer“ wieder dem Verantwortungsbewußtsein einer Leitung weichen, die ihre Stärke und ihren Wert auf das Vertrauen der Mitgenossenschafter gründet. Satzung und Tradition müssen wieder in Geltung treten, wo Willkür und Spekulation eine Genossenschaft als Tummelplatz persönlicher Aspirationen mißbraucht haben. Der Einbruch in die Selbstverwaltung der Genossenschaften und ihrer Verbände ist noch nicht überall beseitigt. Denn es ist zu verlockend, in die Fußstapfen eines Diktators zu treten, mit der Absicht, gutgemeinte Reformen mit den Methoden des Diktators gründlicher und sfiineller durchzusetzen. Der Titel eines öffentlichen Verwalters kann mißverstanden werden. Nie darf der öffentliche Verwalter über seine nächstliegenden Aufgaben hinausgreifen und Rechte an sich nehmen, die auszuüben nach Gesetz und Statut nur den hiezu befugten Organen — zum Beispiel bei Auflötsungsbeschluß ausschließlich der Vollversammlung — vorbehalten sind. In den Genossenschaften und Verbänden muß wieder der Geist der solidarischen Zusammengehörigkeit, der den Egoismus des einzelnen zu überwinden hat, zur Geltung kooimÄ. Selbsthilfe darf nicht auf einige Bevorzugte beschränkt bleiben, sie muß die ganze Gemeinschaft erfassen. Selbstverantwortung muß der ganzen Genossenschaft, nicht bloß einem „Führer“ gegenüber Gewicht und Maß geben. Gemeinnutz hat unverrückbare Grundlage und Zielsetzung jeder genossenschaftlichen Tätigkeit zu sein.

Die hohe Ethik, die das österreichische Genossenschaftswesen von jeher auszeichnete, muß in ihrer ganzen Reinheit und Strenge wieder zu ihrem Rechte kommen. Mag der Wert des Materiellen, mit dem wir es immer und überall in den Genossenschaften zu tun haben, noch so bedeutend sein, das, was hinter dem Stofflichen liegt, was dem Stofflichen Bedeutung, Inhalt, Leben gibt, muß die Vorherrschaft behalten — der gesunde genossenschaftliche Geist, der die Mitglieder zu gemeinsamer Pflege ihrer Standes- und Wirtschaftsinteressen zusammenknüpft —, er muß unter allen Umständen richtunggebend bleiben.

Eine Genossenschaft, die sich nicht loslösen können würde von rein materieller Zielsetzung, hat kein Anrecht auf den Namen Genossenschaft. Denn die Genossenschaft hat im höchsten Sinne auch an der allgemeinen sozialen und sittlichen Erneuerung innerhalb des Berufsstandes zu wirken.

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