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Das Mitglied neu entdeckt

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Eine Raiffeisenbank besinnt sich auf das Mitspracherecht und die Förderung ihrer Mitglieder: Die Erfahrungen mit dem Projekt „Förderbilanz“ in Lilienfeld.

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Eine Raiffeisenbank besinnt sich auf das Mitspracherecht und die Förderung ihrer Mitglieder: Die Erfahrungen mit dem Projekt „Förderbilanz“ in Lilienfeld.

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Aufgabe der Genossenschaften ist es, zur „Förderung des Erwerbes und der Wirtschaft ihrer Mitglieder“ beizutragen. Somit haben sie einen allgemeineren Auftrag als etwa Aktiengesellschaften, bei denen es grob gesprochen nur um den Gewinn geht. Diese umfassende Förderung, von der im Gesetz die Rede ist, steht meist bei der Gründung von Ge-

nossenschaften auch tatsächlich im Zentrum des Interesses der Beteiligten. Im Laufe der Entwicklung aber geschieht es oft, daß der wirtschaftliche Apparat eine Eigendynamik entwickelt und der Genossenschaftsgedanke in den Hintergrund tritt.

Ähnlich ist es auch den Raiffei-senbanken gegangen, die ja bekanntlich genossenschaftlich or-

ganisiert sind. Im Zuge der enormen Expansion des Raiffeisen-Geldsektors seit den sechziger Jahren geriet auch hier dieser besondere Aspekt ins Hintertreffen.

„Die Raiffeisen-Geldorganisa-tion ist heute... aus dem begrenzten Wirkungskreis einer Notgemeinschaft herausgetreten ... Die österreichischen Raiffeisenbanken sind zu Universalbanken geworden ...“, so kennzeichnet der „Finanz-Com-paß 1983/84“ die heutige Lage. Kein Wunder: Bei den Einlagen weist Raiffeisen einen Marktanteil von über 20 Prozent auf.

Diese Expansion ging mit einem Wandel im Selbstverständnis und im Image einher: „Genossenschaften sind des öfteren mit der generalisierenden Ansicht konfrontiert, daß sie sich von ihrer traditionellen Aufgabenstellung entfernt hätten und demgemäß von rein kapitalistisch orientierten Unternehmungen nicht mehr zu unterscheiden seien“, diagnostiziert Mario Patera, Leiter des Instituts für Genossenschaftswesen in Wien.

Ja, und auf diesem Hintergrund unternahm die Raiffeisen-Lan-desbank Wien-Niederösterreich tlen Versuch gegenzusteuern, sich auf den Gründungsgedanken zu-

rückzubesinnen: Sie formulierte ihr „Leitbild“ (siehe Kasten).

„Im Arbeitskreis, der sich mit dem Leitbild beschäftigte, wurde dann an mich auch die Idee herangetragen, den Versuch zu unternehmen, das neue Leitbild zunächst einmal in Lilienfeld zu verwirklichen“, erinnert sich Roman Reisner, Geschäftsführer der dortigen Raiffeisenbank.

Die theoretischen Vorarbeiten dazu hatte Mario Patera mit seinem Institut geleistet. „Förderbilanz“ hieß das Projekt, und es sollte gezielt die (über das rein Wirtschaftliche hinausgehende) Förderung der Mitglieder zum selbstverständlichen Bestandteil der Bankpolitik werden lassen. „Nur dadurch sind auf Dauer Unterscheidbarkeit, Eigenart und Wettbewerbsvorteil von Genossenschaften aufrechtzuerhalten“, begründet Patera dieses Anliegen.

Nun gut: In Lilienfeld sollte also ein Anfang gemacht werden. Was dabei herauskommen würde, wußte niemand so recht. Gestartet wurde jedenfalls mit einem Einführungsseminar für Mitarbeiter und Funktionäre der Bank. Dauer: ein Wochenende.

„Es war für alle Neuland“, stellt Otto Sommer, Obmann der Lilienfelder Bank heute fest. Daher ging es auch darum, sogar diesem inneren Kreis der Bank die Grundzüge des Genossenschaftsgedankens klarzumachen. „Bis dahin waren die Mitarbeiter ja fast nur in banktechnischen Fragen geschult worden. Von den Gedanken Raiffeisens war vorher nur wenig die Rede gewesen.“ (Sommer)

Das sollte jetzt anders werden. Eineinhalb Jahre lang wurden den Mitarbeitern die Grundkonzepte vermittelt. Das hatte natürlich Auswirkungen: Bisher Selbstverständliches wurde in Frage gestellt. Fragen des Betriebsklimas wurden angeschnitten - und auch der Führungsstil blieb kein Tabu. „Da gab es teilweise harte Bandagen“, erinnert sich Reisner. Schließlich galt es ja, den Gedanken der Demokratie auch im Umgang miteinander besser zu verwirklichen.

Neuerungen gab es auch im

Umgang mit dem Kunden: „Der Kunde wurde zum Mitglied“ (Reisner), also zu einer Person, die nicht nur Dienste der Bank in Anspruch nimmt, sondern auch an der Willensbildung des Unternehmens teilnehmen soll.

Wie wenig diese Tatsache jedoch den Mitgliedern bewußt war, mußten die Lilienfelder bei einer anschließenden Mitgliederbefragung feststellen. „Wir haben auf diesem Gebiet ein vollkommenes Vakuum angetroffen“, war Reisners ernüchternde Feststellung. Wohl habe die ländliche Bevölkerung viel stärkere Bindungen an „ihre Kassa“ gehabt, die übrige Bevölkerung aber erlebte sich als normaler Bankkunde, wie von jeder anderen Bank auch.

Nach intensiven Interviews mit 60 Mitgliedern wurden in einer zweiten Befragungsrunde an jeder Bankstelle des Gebietes (sieben an der Zahl) 25 bis 30 Mitglieder nach ihren Vorstellungen gefragt: Wie sollte so eine umfassende Förderung aussehen?

Die Bankleute waren mit gemischten Gefühlen an diese Aktion herangegangen. Nach niedrigen Kredit- und hohen Sparzinsen, die das Geschäft unrentabel machen müßten, würde gerufen werden, so war die Vermutung.

Uberraschenderweise war davon gar nicht so sehr die Rede. Auch bei den anschließend angesetzten Stammtischrunden nicht. Diese sollten den Mitgliedern die Gelegenheit bieten, zu den in der Zwischenzeit von der Geschäftsleitung ausgearbeiteten Förderplänen Stellung zu nehmen.

Was wünschte sich das Mitglied also? Im Grunde genommen ging es den Leuten um Anliegen, die sie persönlich betreffen: um Beratung, um die Frage, wie man ein

Testament macht, wie man zu Theaterkarten kommt, wie die jungen Menschen der von Arbeitslosigkeit heimgesuchten Region einen Job finden könnten ____

Bewährt haben sich insbesondere die Stammtische. Sie haben mittlerweile an jedem Filialort zweimal stattgefunden. Auch zu diesen Veranstaltungen strömen allerdings nicht die Massen herbei. Von den insgesamt 3800 Mitgliedern kamen maximal 25 zu einem solchen Abend. Und wenn ein Termin ungünstig angesetzt worden war, mußten Stammtische auch schon abgesagt werden.

Diese Treffen werden gemütlich organisiert. Man sitzt um Tische — an jedem Tisch ein Mitarbeiter oder Funktionär, der die Information sammelt. „Wir haben gemerkt, daß die Leute locker werden“, stellt Sommer fest. Langsam wird den Teilnehmern bewußt, daß sie wirklich emgete den sind mitzureden. Vorschläge für die Besetzung von Funktionärsstellen werden eingeholt, Kritik und Anregungen werden aufgegriffen.

„Die wenigsten haben bisher gewußt, daß sie Miteigentümer der Bank sind.“ Langsam wandelt sich das Bewußtsein. Die Bank holt ihre Mitglieder heim. Die „Raika“ ist nicht mehr irgendeine, sondern ihre Bank. „Das Transportieren dieser Idee ist äußerst schwer“, faßt Reisner seine bisherigen Erfahrungen zusammen. Er

rechnet mit echten Früchten erst in drei bis fünf Jahren.

Mittlerweile gibt es in Lilienfeld einen Förderplan. Er ist in sieben Bereiche untergliedert, und über ihn wird Bilanz gelegt. Da reichen die Vorsätze und Leistungen von billigerer Bearbeitung von Wohnbaukrediten der Mitglieder und Ausbildung eines Mitarbeiters für die Beratung in Wertpapierfragen über Änderung von Öffnungszeiten (um mehr Zeit für Beratung zu haben) bis zu ausführlicher Mitgliederinformation über Rechte und Pflichten, Veranstaltung von Beratungsabenden, Abschaffung einzelner Gebühren____

Bei manchen Positionen ist es hei den Vorsätzen geblieben - die Bilanz macht das deutlich. Wenig Erfolg gab es etwa bei dem brennenden Problem Arbeitslosigkeit. Eigentlich wäre das eine Herausr Forderung, in der der Geldsektor Aufgaben wahrzunehmen hätte. Nur, was tun? Das Aushängen von Listen mit offenen Stellen in den Filialen hat nichts gebracht. Man war immer zu spät dran.

Da müßte man sich noch mehr einfallen lassen. Einer Aktiengesellschaft kann so ein Problem eigentlich egal sein, meint Reisner, aber „wenn ich die Probleme meiner Mitglieder nicht lösen kann, komme ich an die Existenzfrage.“ Für eine solche Herausforderung aber reicht die Arbeitskapazität einfach nicht. Das Projekt Förderbilanz hat ohnedies schon genug Freizeit gekostet. „All das muß ja neben dem Alltagsgeschäft geschehen.“

Könnte man nicht für die umfassende Förderung einen eigenen Mitarbeiter abstellen? „Nein, derzeit ist das nicht drinnen“, bekomme ich zur Antwort. Vielleicht später einmal, wenn diese Aufgabe ebenso selbstverständlich geworden sein wird wie heute die Innenrevision. Für sie wollte man früher ja auch niemanden einsetzen. „Vielleicht kommt einmal die Zeit, da man sich einen Förderplanmitarbeiter leisten wird. Er würde — über Umwege — der Bank ganz sicher auch finanziell etwas bringen“, überlegt Reisner.

Bis dahin ist jedoch sicher noch Zeit. Die Tatsache, daß die „Rai-ka“ wirklich keine Bank wie jede andere sein darf, muß sich auch im Raiffeisen-Geldsektor erst herumsprechen.

Dann werden die Manager vielleicht ihren Erfolg nicht mehr nur in Marktanteilen messen und in Bilanzsummen. Dann würde auch die ursprüngliche Intention Raiffeisens wieder besser verwirklicht.

In Lilienfeld jedenfalls ist etwas in Bewegung geraten: ein begrüßenswerter Ansatz in einer Welt reinen ökonomischen Denkens.

Die Zitate von Mario Patera stammen aus HANDBUCH DES OSTERREICHISCHEN GENOSSENSCHAFTSWESENS. Von Mario Patera (Hrsg). Orac-Verlag Wien 1986,65 Seiten.

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