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Sowjetingenieure

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Ingenieure sind in Rußland immer schon ein selbstbewußtes. Korps gewesen. Das macht schon ihre Geschichte. Technisches Wissen wurde dort immer sehr geschätzt. Daher nimmt es nicht wunder, daß am Anfang des vorigen Jahrhunderts die ersten technischen Hochschulen sofort zu den vornehmsten Lehranstalten des Landes zählten. Die beiden Hochschulen für Verkehrsingenieure und für Bergwerksingenieure wurden als militärische Anstalten gegründet, obwohl sie ja für eine friedliche Tätigkeit bestimmt waren. Die geistige Elite des Adels besuchte diese Hochschulen. Die Kaiser Alexander I. und Nikolaus I. waren bekanntlich große Verehrer des preußischen Drills. Ihre Paraden übertrafen noch die berühmte Potsdamer Wachtparade. So erhielten auch die angehenden Ingenieure eine gründliche militärische Ausbildung. Zu den Prüfungsfächern gehörte auch der berühmte Marsch durch die Aula. In voller Ausrüstung mußte der Kandidat antreten. Auf den hohen Tschako wurde ihm ein volles Glas Wasser gestellt. Mit diesem Glas Wasser auf dem Kopf mußte er durch den ganzen langen Saal im Taktschritt marschieren, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten.

Auch die wissenschaftlich-technische Ausbildung war sehr gut. Zeugnis davon ist auch heute noch die Eisenbahn Moskau—Leningrad. Ein kleines Weltwunderl Als man Kaiser Nikolaus I, die verschiedenen Varianten der Eisenbahnstraße zur Auswahl und Bestätigung vorlegte, schob er alle Varianten beiseite, ließ sich eine neue Karte geben und zog mit dem Lineal einen geraden Strich zwischen den zwei Städten. So wurde die Bahn auch gebaut!

Die Ingenieure aller Fachrichtungen waren also noch vor hundert Jahren in Rußland Offiziere, in einzelne „besondere Korps“ zusammengefaßt, mit reichbestickten Uniformen und mit den Rechten der Gardeoffiziere, also sehr rascher Beförderung. Ende des vorigen Jahrhundert wurden sie Zivilisten, jedoch mit Uniform und beamtetem Rang. Die prachtvollen Uniformen der Studenten und der Ingenieure blieben. Auch die Ingenieure, die in die Privatindustrie gingen, hatten das Recht, Uniform und Offizierskokarde zu tragen.

Nach der bolschewistischen Revolution begann bekanntlich ein langer und blutiger Kampf zwischen der neuen Staatsmacht und den gebildeten Schichten Rußlands. Doch keine Gruppe, die dem Regime offen feindlich gegenüberstand, benahm sich so selbstbewußt wie die Ingenieure. Sie wußten: ohne sie geht es nicht! Schon 1925 beriefen die Ingenieure einen großen Kongreß nach Leningrad und verlangten nicht mehr und nicht weniger als politische RechteI Natürlich wurden ihnen diese verweigert. Der Kampf verschärfte sich weiter. Unzählig waren die Prozesse gegen Ingenieure wegen Sabotage. Und doch, Erschießungen von Ingenieuren waren relativ selten, man brauchte sie zu sehr. Bezeichnend waren aber zwei von den vielen Sabotageprozessen, die in aller Oeffentlichkeit durchgeführt wurden. Der eine war der Prozeß gegen die Ingenieure des Bergwerksbezirkes Schachty im Donezbecken. Sie waren der Sabotage, der Verbindung mit den früheren Besitzern der Bergwerke, und einzelne von ihnen auch der Verbindung mit ausländischen Geheimdiensten angeklagt. So selbstbewußte Angeklagte sah ein Sowjetgericht bis dahin nicht. Sie polemisierten mit dem Staatsanwalt, ja erhoben ihrerseits Anklage gegen das Sowjetregime. Ein alter Ingenieur, der sich unschuldig fühlte, nannte das Gericht offen eine Komödie, verglich es mit den gestellten Ritualmordprozessen der Zarenzeit und mit dem Dreyfuß-prozeß. In der Politbürositzung, die dem Prozeß voranging, verlangte Stalin, der Realist, daß keine Todesurteile vollzogen werden sollten. Er blieb damals in der Minderheit. Von über 30 Angeklagten wurden fünf erschossen. Etwa vier Jahre später fand in zweiter bemerkenswerter Prozeß statt. Erst dieser zeigte, was die Ingenieure anstrebten. Es war der Prozeß gegen die Industriepartei. Führende Ingenieure hatten eine geheime Partei gegründet, eben die Industriepartei. Sie hatten erwartet, daß die Durchführung des ersten Fünfjahresplanes und die Kollektivisierung der Landwirtschaft zu einem Chaos führen würde. Dann wollten sie die Sowjetregierung stürzen und die Macht übernehmen. Zu diesem Zweck hatten sie versucht, sich mit ausländischen Regierungen in Verbindung zu setzen. Selbstbewußt, kühl und ruhig erklärte der Führer der Verschwörung, der berühmte Ingenieur Ramsin, die Ziele der Verschwörung. Die Ingenieure wollten in Rußland eine Technokratie errichten. Nach der Theorie, daß in unserem Zeitalter der Technik die Führung und Leitung des Staates in die Hände der Techniker gehöre, die den Staat autoritär zu regieren hätten. Trotz der schweren Anklage — kein einziges Todesurteil! Und wie sich später herausstellte, hat keiner dieser Ingenieure länger als ein paar Wochen im Gefängnis gesessen, weder als Untersuchungsgefangener noch als Sträfling. Sie alle waren in der berühmten Villa „Schwarzer Schwan“ bei Moskau sehr luxuriös untergebracht. Schon wenige Jahre nach dem Urteil wurde Professor Ramsin, das Haupt der Verschwörung, begnadigt.

Die Versöhnung des Regimes mit den Ingenieuren kam rasch. Zuerst einmal ohne großes Aufsehen. Die materielle Lage der Ingenieure wurde verbessert. Ihre Befehlsgewalt im Betrieb wurde wiederhergestellt. Bald folgten andere Privilegien. Endlich begann die offizielle Propaganda, die Ingenieure zu umwerben. Die Ingenieure wurden zum ersten Stand des Staates erklärt. Der Kongreß der „Kommandeure der Industrie“ im Jahre 1935, auf dem auch Stalin auftrat, war die endgültige Versöhnung. Seitdem ist der Einfluß der Ingenicure immer mehr gewachsen. Als man den Schriftstellern schmeicheln wollte, nannte man sie „Ingenieure der Seelen“. Wenn die Sowjetpretse die intellektuellen Berufe aufzählt, rangieren zuerst immer die Ingenieure, dann erst alle anderen.

Wer in der Sowjetunion etwas zu tun hat, der glaubt auf den ersten Blick, die Sowjetunion sei ein Staat der Manager. Ein Staat mächtiger Leiter riesiger Industrieunternehmen. Doch dieser Schein täuscht.

In der zaristischen Zeit waren die Ingenieure eine Art Offiziere ohne Armee. Zwischen ihnen und der Masse der Arbeiter bestand kein Kontakt. Meistens standen die Arbeiter den Ingenieuren feindlich, wenn nicht mit Haß gegenüber. Heute erstreckt sich ihr Einfluß bis tief in die Arbeiterschaft hinein. Normalerweise und meistens wird man Ingenieur, wenn man mit der Matura in eine technische Hochschule eintritt und die Diplomprüfung besteht. Ohne Hochschuldiplom darf man sich in der Sowjetunion nicht Ingenieur nennen. Doch es gibt einen Aufstieg von unten. Jeder gewöhnliche Arbeiter kann Ingenieur mit Hochschulbildung werden. Nur ist der Weg mühsam und lang. Ein gewöhnlicher Arbeiter kann die abendliche Werkmeisterschule besuchen. Hat er das Meisterzeugnis, dann kann er an einem Abendoder Ferntechnikum studieren. Er kriegt für die Prüfungen bezahlte Ferien. Hat er auf diese Weise das Technikerdiplom, das der Matura gleichgestellt ist, dann steht ihm der Weg in eine Fernhochschule offen. Das alles endet mit einer Hochschul-Diplomprüfung. Auf diese Weise besteht eine Interessengemeinschaft zwischen den Ingenieuren und der ehrgeizigen Elite der Arbeiter. Es ist selbstverständlich, daß die Techniker, in den Technikums vom Korpsgeist erfüllt, zu den Ingenieuren halten. Außerdem gibt es die sogenannten „Schulen der Arbeitskaders“. Das sind Gewerbeschulen mit zweijährigem Lehrgang. Es gibt in der Sowjetunion heute beinahe keine Lehrlinge mehr. Die gelernten, „qualifizierten“ Arbeiter werden hier ausgebildet. Die Schulen sind Internate, die Schüler uniformiert, auch ihnen wird ein Korpsgeist anerzogen. Später verhalten sie sich zu den Ingenieuren so, wie einst in der preußischen Armee die Unteroffiziere zu ihren Offizieren.

Traditionsgemäß zeigen die Ingenieure beinahe nie ein besonderes üppiges Leben in der Oeffentlichkeit. Es ist ein sehr ernster Stand. Die alte Tradition wurde nach dem Kriege schon dadurch verstärkt, daß der privilegierte Kern der Ingenieure, die Ingenieure der Bergwerke, der Bahnen und der Schwerindustrie, wieder eine Uniform erhielten. Doch die Ingenieure im Generalsrang tragen ihre Uniform meist nur im Dienst. Gewissermaßen als Solidarität mit ihren Kollegen und aus Korpsgeist. Materiell beginnen die Ingenieure wie alle Akademiker. Ein junger Ingenieur, eben von der Hochschule kommend, erhält als Anfangsgehalt etwa 800 Rubel monatlichen Grundgehalt. Das ist ebensoviel wie der junge Arzt oder der junge Lehrer. Es ist etwas mehr, als ein Hauptmann der Armee bekommt. Nur daß der letztere größere Naturalbezüge hat. Doch dann beginnt beim Ingenieur der steile Aufstieg. Das Einkommen des Arztes oder Lehrers wächst langsamer, vom Offizier ganz zu schweigen. Zu dem Grundgehalt kommen beim Ingenieur noch die Prämien. Für alles erhält er Prämien, für die Uebersteigung des Plansolls, für Ersparnisse an Material, Zeit oder Heizung, für Rationalisierung. Wenn der Ingenieur auch an seinem Arbeitsplatz bleibt, ohne zu avancieren, wächst sein Grundgehalt doch von Jahr zu Jahr. (Aber es ist in der Sowjetunion schwer, als Ingenieur nicht zu avancieren.) Die Industrie wird immer größer, immer mehr Werke entstehen. An Naturalbezügen hat der Ingenieur meist die Wohnung und gutes, billiges Essen in der Ingenieurmesse. Er hat einen Monat Urlaub im Jahr, währenddessen ihm häufig alles in einem guten Sanatorium oder Erholungsheim bezahlt wird; mindestens genießt er 50 bis 70 Prozent Rabatt. Zuschläge werden für die Kenntnisse jeder Fremdsprache und für die Erlangung „wissenschaftlicher Grade“ bezahlt. Solche Grade gibt es zwei. „Kandidat der technischen Wissenschaften“ und „Doktor der technischen Wissenschaften“. Beide sind sehr schwer zu erlangen. Graduierte bleiben gewöhnlich selten in den Betrieben. Sie kommen an die Hochschulen und wissenschaftlichen Institute. Erfindungen gehören nicht dem Betrieb, sondern dem Ingenieur oder der Gruppe der Erfinder. Zwar darf die gesamte Industrie die patentierte Erfindung benützen, ohne den Erfinder zu fragen, doch sie muß ihm auch automatisch die Lizenzgebühren bezahlen, falls der Staat diese nicht auf einmal abgelöst hat. Die Stalin-Preise werden besonders oft an Ingenieure verliehen. Theoretisch kann der Ingenieur unbeschränkt verdienen. Wird er einmal Direktor eines wissenschaftlichen Institutes, so ist sein Grundgehalt etwa 12.000 Rubel monatlich. Dazu Honorare für Gutachten und Artikel, Tantiemen für Bücher, eine große Stadtwohnung samt allem, was dazu gehört. Ein Landhaus, ein Auto samt Chauffeur stehen ihm wie sein eigenes zur Verfügung.

Interessant ist, daß die zahlreichen weiblichen Ingenieure, die es zur Zarenzeit nicht gab,, sehr schnell den alten Korpsgeist wie die ganze Art und Weise des Benehmens und Sichgeben ihrer männlichen Kollegen übernommen haben. Meist bevölkern sie die Konstruktionsbüros und wissenschaftlichen Institute. Doch es gibt sehr viele auch im Betrieb. Selbst in den Expeditionen, die Erze und Rohöl suchen, gibt es viele Frauen, besonders viele weibliche Geologen, die eigentlich auch zu den Ingenieuren zählen. Bekannt ist eine besonders erfolgreiche Eisenbahningenieurin — eine elegante, blonde Erscheinung —, die als Chef von Expeditionen die Trasse für neue Eisenbahnen durch Urwälder und Steppen erforscht. Die Macht der Ingenieure zeigt sich heute auch in der Zusammensetzung der höchsten Partei- und Regierungsorgane. In dem Ministerrat haben sie die Mehrheit. In der höchsten Parteiinstanz, im Politbüro, gab es noch vor 20 Jahren nicht einen einzigen Ingenieur. In dem heutigen Parteipräsidium sind von neun Mitgliedern folgende Ingenieure oder gelten eigentlich als solche: Marschall Nikolaj Bulganin, Kaga-nowitsch hat zwar kein Diplom, steht jedoch seit 37 Jahren an der Spitze von Industrien, vor allem der Eisenbahnen. Die Ingenieure halten ihn für einen der ihren. Das ist seine große Machtposition. Molotow studierte an der Technischen Hochschule. Der erste Parteisekretär, Nikita Chruschtschew, ist von Beruf Bergwerkstechniker, mit guter technischer Schulbildung. Schon vor der Revolution gekleidete er im Donezbecken einen technischen Posten mit Offiziersrang.

So wird die Sowjetunion immer mehr zu einer Technokratie. Die. Ingenieure verhalten sich still, solange ihre Berufsinteressen nicht berührt werden. Dann verstehen sie es meisterhaft, sich durchzusetzen — ohne viel Aufhebens. Es waren natürlich viele Gründe, daß der Streit zwischen der Leicht- und Schwerindustrie zugunsten der letzteren entschieden wurde. Die Bevorzugung der Schwerindustrie liegt ganz in den Absichten der Ingenieure, die sich ihre romantischen und sie begeisternden Aufgaben der Erschließung neuer Naturreichtümer, den Bau gewaltiger Industriewerke, nicht schmälern lassen wollen. Letzten Endes hängt aber auch die sowjetische Außenpolitik von denjenigen ab, welche die Hand auf dem Kommandohebel der Maschine halten.

Von dem Preußen Friedrich des Großen sagte man einst: Es ist eine Armee, die der Staat besitzt. Von der Sowjetunion wird man bald sagen können: Es ist eine Industrie, die einen Staat hat, den Staat der Technokratie.

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